Sweetgrass - das Herz der Erde
die beständige Brandung war zu hören und das Summen der Insekten.
Morgan wusste, warum er gekommen war, warum er die Straße buchstäblich bis an ihr Ende gefahren war. Er musste eine Entscheidung treffen – er konnte die Nacht hier verbringen und sich mit dem Geist seines Bruders auseinandersetzen, er konnte aber auch auf der Stelle kehrtmachen und Blakely’s Bluff für immer hinter sich lassen.
Erschöpft lehnte er sich gegen das Lenkrad und ließ den Kopf auf die Arme sinken. Er ertrug diesen Kampf nicht mehr länger. Es war nicht der Alkohol oder die Müdigkeit oder das Unbehagen, das sich in sein Blut mischte wie das dunkle brackige Wasser voller Schlick aus einem Sumpfloch.
Er hörte seinen Bruder heulen, der seinen Namen in den Wind rief.
“Na gut, du verdammter Hurensohn”, murmelte Morgan. “Ich komme.”
In dieser Nacht schrie Morgan.
Er war wieder in dem Boot. In der Haifischsenke. Der Himmel wirkte bedrohlich, Wolken ballten sich zusammen. Irgendwo rumpelte der Donner. Morgan hatte Angst. Er fühlte sich nicht sicher. Er wollte nach Hause.
“Wir müssen nach Hause!”, rief er panisch, immer und immer wieder. “Wir müssen nach Hause!”
Hamlin war mit ihm im Boot. Er war größer und kräftiger als er, und er lachte. “Keine Bange”, antwortete er jedes Mal. “Mach dir keine Sorgen.”
Der Donner wurde immer lauter, betäubender, und der Wind frischte auf und hinterließ Schaumkronen auf dem Wasser. Die Angst ergriff Besitz von Morgan, denn er wusste, dass sie schon längst hätten zurückfahren sollen, bevor der Himmel sich so bedrohlich verändert hatte. Er hatte es doch gesagt!
Aber Hamlin lachte nur. “Keine Bange, Morgan. Mach dir keine Sorgen.”
Am Anfang war der Wind gar nicht so schlimm gewesen, doch dann, plötzlich, wurde er stärker und stärker, und immer stärker. Es war, als segelten sie mitten in eine große schwarze kalte Wand. Die Schaumkronen verhießen nichts Gutes für das flache Boot. Sie mussten noch ein Stück über die offene See, bevor sie das geschütztere Marschland erreichten.
Das Boot lag tief im Wasser. Morgan hielt sich so krampfhaft am Bootsrand fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Das Boot musste allerhand einstecken. Der Motor wurde schwächer, und das Wasser schwappte ins Boot.
Und plötzlich hörte Hamlin auf zu lachen. “Zieh das an!”, rief er und warf Morgan die Rettungsweste zu. Es war die einzige.
“Nimm du sie!”, schrie Morgan.
“Ich komm schon klar!”, brüllte Hamlin zurück. “Zieh sie an, Kleiner!”
Morgan tat, was sein Bruder ihm befahl. Er tat immer, was Hamlin ihm sagte.
Hamlin umklammerte das Ruder mit einem merkwürdigen Glimmen in den Augen und reckte sich dem Wind entgegen. Die Wellen versuchten sich an ihm. Sie waren riesig, breit und hart wie Granit, als sie gegen das Boot schlugen. Doch Hamlin biss die Zähne zusammen und lotste das Boot durch die Schaumkronen. Das kleine Boot bäumte sich auf und zerbrach die Wellen, im Zickzackkurs Richtung Sümpfe. Aber der Motor war zu schwach und fing an zu stottern. Sie hatten nicht genug Kraft, um sich durchzukämpfen.
Das Boot schien kleiner und kleiner zu werden und die Wellen höher und höher und immer höher, bis sie Morgan vorkamen wie eine urzeitliche Bestie, die im Begriff war, sie zu verschlingen. Über dem Heulen des Windes hörte er, wie eine Bodenplanke unter den gewaltigen Wellen nachgab und in der Mitte zerriss. Wasser stürzte herein und füllte triumphierend das Boot. Für Morgan war das kalte Wasser ein schrecklicher Schock, und er schrie verzweifelt nach seinem Bruder.
“Ham! Ham!”
Plötzlich wurde Morgan mit einem Schlag durch die Luft gewirbelt. Wie in Zeitlupe sah er Füße und Beine und Hände und Holz und Dunkelheit, als er jäh – bumm! – unter Wasser war. Alles war mit einem Mal ganz still, fast friedlich. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er sich einfach treiben lassen, dort bleiben, wo er jetzt war. Aber irgendetwas zog ihn zur Oberfläche, wo er nach Luft schnappte, Arme und Beine im kalten Wasser schwebend. Es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können.
Aber wo war Hamlin? Nicht weit entfernt konnte er den Kopf seines Bruders erkennen. Er öffnete den Mund, um nach ihm zu rufen, doch der Wind spülte ihm eine Ladung Salzwasser ins Gesicht. Die Tropfen brannten auf seiner Haut, in seinen Augen, und er musste husten. Für einen Moment nur schloss er die Augen. Nur bis das Brennen vorüberging. Aber als er die
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