Sweetgrass - das Herz der Erde
Unterlippe und fragte: “Aber sagen Sie, in diesem Häuschen hier spukt es aber nicht, oder?”
“Ich dachte, Sie hätten keine Angst!” Er lachte und wehrte ihren Einwand mit der Hand ab. “Schon gut, schon gut”, neckte er. “Keine Bange. Ich bin mir ziemlich sicher, dass hier im Küchenhaus noch kein einziger Geist gesehen wurde. Hier sind Sie völlig sicher.”
Sie wurde auf eine sehr hübsche Art ein bisschen rot. “Ich habe keine Angst. Ich bin nur neugierig.”
“Na klar.”
“Wirklich!”
“Das wird sich ja herausstellen”, zog er sie auf und merkte, wie er sie von Minute zu Minute mehr ins Herz schloss. Kristina Hays war eine selbstbewusste und dennoch sehr offene Frau, mit der man gern zusammen war. “Aber richten Sie sich erst mal häuslich ein. Und dann müssen Sie es vor allem mit den beiden Frauen aufnehmen, die hier anstelle von Beatrice mit eiserner Hand regieren: meine Mutter und Nona. Zwei Energiebündel. Sie wissen alle beide genau, was sie wollen – und sie sind wie Glucken, wenn es um meinen Vater geht.”
“Ich mag sie schon jetzt”, entgegnete sie und folgte ihm mit erwartungsvoll glänzenden Augen zur Tür.
Ein paar Tage später war alles für Prestons Heimkehr vorbereitet. Mama June wanderte mit gefalteten Händen durch die große Halle, während sie alles noch einmal überprüfte. Die Lampen verbreiteten ein warmes Licht, und das ganze Haus roch nach Bohnerwachs, Reinigungsmitteln mit Zitrusduft und nach den vielen Blumen, die überall hübsch in Vasen angerichtet verteilt waren. Mit leichtem Bedauern betrachtete sie ihr wunderbares Speisezimmer, das in ein behelfsmäßiges Krankenzimmer umgewandelt worden war. Die Ärzte hatten vorgeschlagen, Preston im Erdgeschoss unterzubringen, damit die Treppe kein Hindernis darstellte. Nan und ihre Söhne hatten dabei geholfen, die Möbel aus dem Speisezimmer anderswo unterzustellen, um Platz zu schaffen für das Krankenhausbett, den Bettlift und anderes medizinisches Gerät.
Mama June ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und musste unwillkürlich lächeln, als sie den kostbaren Kristallleuchter direkt über dem gemieteten Krankenhausbett hängen sah. Das war das letzte Überbleibsel des einst so festlichen Raums und gab dem sterilen Krankenhaus-Ambiente einen besonderen Touch.
Jetzt konnte sie nur noch warten. Ruhelos ging sie hinaus auf die Veranda. Breite Sonnenstrahlen durchbrachen die dunklen Wolken. Irgendwo bewegte sich etwas, und sie drehte sich neugierig um. An der alten Holzschaukel trieben sich Chas und Harry herum und schlugen die Zeit tot.
Bald kommt er die Auffahrt hinauf, dachte sie und sah zur Eichenallee hinüber. Sie hatte so hart für diesen Tag gearbeitet. Mit einem Mal musste sie an die schreckliche Nacht denken, als ein Rettungswagen Preston ins Krankenhaus gebracht hatte. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihr Herz, das ihr bis zum Hals schlug.
Einen solchen Schrecken hatte sie nie zuvor erlebt.
Sie hatte in ihrem Zimmer gesessen und in der Bibel gelesen, um sich nach der Auseinandersetzung mit Preston zu trösten. Und plötzlich hatte sie ein merkwürdiges Geräusch draußen vor ihrem Fenster gehört, wie der erstickte Laut eines Tieres, eine jaulende Katze oder eine Eule. Sie hatte ihr Buch zugemacht und gelauscht, als sie unvermittelt ein lautes Krachen und gleich darauf Blackjacks aufgeregtes Bellen vernommen hatte.
Mama June hatte genug Tod und Elend gesehen in ihrem Leben – aber ihn da so ausgestreckt auf dem Boden liegen zu sehen, das Gesicht leichenblass im grellen Licht der Veranda …
Sie hatte ihn für tot gehalten. Und sie hatte damit gerechnet, dass auch ihr eigenes Herz jeden Moment aufhören würde zu schlagen. Doch anstatt einer Panik überkam sie eine merkwürdige Ruhe. Mit einem Mal wusste sie genau, was zu tun war.
Die Hilfe war schnell gekommen. Mama June konnte vor ihrem inneren Auge immer noch die roten Lichter des Rettungswagens kleiner werden sehen und Blackjack, der aufgeregt hinter dem Wagen herrannte und dessen verzweifeltes Bellen sich mit der Sirene vermischte.
Sie legte ihre Hand an den Mund. Ihre Lippen zitterten. Sie hätte in jener Nacht mit Preston nicht so streiten dürfen. Ihm nicht sagen dürfen, was sie da auf der Veranda zu ihm gesagt hatte. Gedanken, die sie all die Jahre für sich behalten hatte. Was war nur in sie gefahren, diese Worte laut auszusprechen? Schuldgefühl überkamen sie, als sie sein Gesicht wieder vor sich sah, in dem sich der
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