Sweetgrass - das Herz der Erde
hochgewachsen, reichte ihm aber trotzdem nur bis zum Kinn. Er nahm den Duft von Zitrusfrüchten und Blumen wahr, der erstaunlich frisch war für diesen schwülen Tag. Er streckte seinen Arm über ihre Schulter, um die Richtung anzugeben.
“Da drüben, gleich neben der knorrigen alten Eiche mit der Schaukel. Sehen Sie’s? Da ist ein Schild zur Markierung. Es war das älteste Haus der ganzen Gemeinde.”
“Und was ist damit passiert?”
“Was mit vielen dieser alten Häuser passiert ist. Erdbeben, Feuer, Schwamm. Irgendwann hat dann ein Hurrikan den Rest erledigt.”
Sie wich ein Stück zurück und stieß dabei gegen seinen Arm. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, und die Luft zwischen ihnen lud sich auf. Rasch murmelten sie ein paar Entschuldigungen.
“Und wer”, fragte sie, ging noch ein Stück zurück und sah sich im Zimmer um, “hat das neue Haus gebaut?”
“Das war Beatrice. Sie war eine echte Persönlichkeit, unsere Beatrice. Oliphants erste Frau starb im Kindbett, und Beatrice war seine zweite Frau. Sie war gerade mal achtzehn, als er sie geheiratet hat, dabei war er nicht mehr der Jüngste. Aber sie hat ihm noch sieben Kinder geboren, und fünf von ihnen hat sie selbst noch überlebt. Nachdem ihr Mann gestorben war, hat sich Beatrice um die Plantage gekümmert und auch um den Bau eines neuen Hauses für kommende Generationen. Sie hat sich um alles selbst gekümmert. Das war nicht selbstverständlich zu einer Zeit, als es noch nicht einmal ein Wahlrecht für Frauen gab.”
“Sie muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein.”
“Nach allem, was von ihr erzählt wird, war sie das wohl tatsächlich. Mit eiserner Hand hat sie die Plantage geführt.” Etwas leiser fügte er hinzu: “Aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Fragen Sie sie einfach selbst.”
“Wie bitte?”
Er grinste zufrieden, weil er sie verwirrt hatte. “Ganz offensichtlich geistert meine liebe Großmutter Beatrice noch immer hier herum.”
“Wirklich? Ein Geist?”, fragte sie fasziniert.
“So erzählt man sich”, antwortete er, vergrub die Hände in den Hosentaschen und lehnte sich an die Wand. “Nicht, dass das etwas Außergewöhnliches wäre hier in Charleston. In fast allen alten Häusern soll es spuken.”
Sie wurde immer neugieriger. “Woher wissen Sie, dass es hier spukt?”
“Die Leute erzählen, dass sie sie gesehen haben, wie sie nachts in der Halle herumgeisterte oder wie sie an ihrem Schlafzimmerfenster kniete und betete. Oder wie sie im Schaukelstuhl auf der Veranda saß und zu ihrer Plantage hinüberschaute. Über die Jahre gab es Dutzende solcher Sichtungen. Manche sagen, sie hätten ihre Schritte gehört oder quietschende Stühle, alles Mögliche. Die Menschen glauben, dass die alte Dame so hart für dieses Haus gearbeitet hat, dass sie einfach nicht loslassen kann. Nona hat sich immer geweigert, im Haus zu schlafen. Sie schwört Stein und Bein, Beatrice schon oft gesehen zu haben, so wie ihre Mutter vor ihr, und sie fürchtet sich zu Tode.”
“Haben Sie sie auch gesehen?”
“Ich?” Er schüttelte den Kopf. “Nein, leider nicht. Dann würde ich vielleicht daran glauben.”
“Sie sind also mehr der skeptische Typ?”
“Das bin ich. Der zweifelnde Thomas.” Er beugte seinen Kopf vor, als wolle er sie näher inspizieren. Seine blauen Augen funkelten belustigt. “Und wir müssen wohl davon ausgehen, dass Sie der leichtgläubige Typ sind?”
“Da haben Sie mich erwischt”, erwiderte sie und lachte leise. Ihre Blicke begegneten sich erneut, und er konnte sehen, dass sie sich wohl fühlte und dass die Anziehung gegenseitig war.
“Hamlin jedenfalls”, fuhr er fort, “war fest davon überzeugt, dass Beatrice im Haus herumspukte. Ich musste oft nächtelang mit ihm aufbleiben, um auf sie zu warten. Aber ich war noch so jung und bin jedes Mal eingeschlafen – wahrscheinlich vor Langeweile.” Er zuckte mit den Schultern.
“Hamlin?”
Morgan zog die Hände aus den Hosentaschen und straffte die Schultern. “Mein älterer Bruder. Hamlin Blakely IV.” Seine Miene verdüsterte sich. “Er ist vor Jahren gestorben.”
“Oh, das tut mir leid.” Sie verstummte und brachte dann das Gespräch wieder auf Gespenster. “Na, wer weiß? Wenn er ihren Geist gesehen hat, habe ich ja vielleicht Glück und treffe sie auch.”
“Das macht Ihnen also keine Angst?”
“Mir? Oh nein. Ich finde es eher spannend. Ein Spukschloss …” Sie sah sich im Küchenhaus um, biss sich auf die
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