Sweetgrass - das Herz der Erde
Händen zu greifen. Wortlos stand sie da, sah ihn minutenlang an und wartete auf den richtigen Moment, während um sie herum alle anderen ebenfalls verstummten. Stille trat ein. Mama June hörte Nona in der Küche werkeln, hörte in der Ferne eine Drossel zwitschern und Blackjacks Schnüffeln und Jaulen, während er auf der Veranda eine Spinne jagte.
Prestons unsteter Blick blieb schließlich an Kristina hängen und kam endlich zur Ruhe. Sie schien ihn zu bannen. Mary June bemerkte, wie ganz allmählich das Misstrauen, die Furcht aus seinem Gesicht verschwand. Darauf musste Kristina gewartet haben. Vorsichtig und ohne die Augen von Preston zu wenden lief sie um das Bett herum und streckte, immer noch schweigend, ihre Hand aus. Sie ergriff seine Hand und führte sie an ihr Herz. Die Geste wirkte auf Mama June friedvoll, beinahe intim. Sie konnte die Nähe, die augenblicklich zwischen ihnen entstand, fast selbst spüren. Die beiden sahen einander an, bis nach und nach das Zittern aufhörte.
Erst dann, als er ganz ruhig geworden war, begann sie zu sprechen. “Hallo, Preston. Ich bin Kristina”, sagte sie mit ihrer klangvollen Stimme. “Ich werde mich um Sie kümmern.”
Mama June seufzte erleichtert und dachte:
Ich bin nicht mehr allein
.
Als hätte sie es gehört, wandte Kristina ihr den Kopf zu und bedeutete Mama June mit ihrer freien Hand, näher zu kommen.
Mama June räusperte sich und trat an das Bett, überrascht, wie sehr ihr Herz dabei klopfte. Kristina ergriff Mama Junes Hand und legte sie in Prestons.
“Sie brauchen jetzt etwas Zeit für sich und ihren Mann”, sagte sie leise. “Ich bin gleich nebenan. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind.”
Mama June blickte ihren Mann an und bemerkte, dass das Zittern wieder eingesetzt hatte. Erschrocken sah sie zu Kristina, die aber bereits dabei war, die restliche Familie aus dem Zimmer zu schicken. Behutsam führte Mama June Prestons Hand an ihr Herz, wie sie es bei Kristina gesehen hatte.
“Preston”, rief sie leise. Seine Wangen waren gerötet, und Schweißperlen glitzerten auf seiner Haut. “Preston”, wiederholte sie drängender und drückte seine Hand.
Endlich richtete Prestons unsteter Blick sich auf sie. Mama June sah ihn an und spürte mit jeder Sekunde mehr, dass sie sein Licht war, das ihn aus der Verwirrung führen musste. Sie blickte in seine klaren blauen Augen, lächelte aufmunternd, beugte sich, ohne die Augen abzuwenden, vor und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange.
“Willkommen zu Hause”, flüsterte sie.
Sie wusste, dass er sie erkannte, aber er schien nicht zu verstehen, was sie gesagt hatte.
“Du bist wieder zu Hause”, wiederholte sie. “Du bist wieder zu Hause auf Sweetgrass.”
Und mit einem Mal erkannte sie, dass er verstanden hatte. In seinen wasserblauen Augen entdeckte sie das erste Zeichen von Frieden seit dem Beginn seines Leidensweges. Vor Erschöpfung fielen ihm die Augen zu.
Etwas beruhigter lehnte sie sich gegen das Bett und zog die dünne Baumwolldecke über ihm zurecht. “Das war ein anstrengender Vormittag, nicht wahr? Am besten setzen wir zwei uns ein bisschen hin und ruhen uns aus. Wir könnten uns vorstellen, wir säßen draußen auf der Veranda und würden uns den Sonnenuntergang anschauen. Sollen wir?”
Er seufzte leise.
So saßen sie eine Weile schweigend beieinander. Sie hielten sich an den Händen, lauschten dem Klappen der Tür und hörten gelegentlich ein Lachen, das das Gemurmel der Familie, die auf der Veranda saß und sich unterhielt, unterbrach. Nach und nach wurde Prestons Zittern weniger, und sein Atem ging nun gleichmäßig.
“Schau uns an”, sagte sie. “Wir halten Händchen wie Teenager.” Sie lächelte, als sie wehmütig fortfuhr: “Das haben wir lange nicht gemacht, oder?”
Sie spürte, wie ihre Hand ganz sacht gedrückt wurde – doch für sie fühlte es sich an, als habe Preston sie ganz fest in seine Arme geschlossen.
“Ich weiß, dass wir uns eine ganze Weile nicht mehr wirklich nahe waren. Zu lange. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich verspreche dir, ich bleibe bei dir. Du hast mich an deiner Seite, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich werde mein Bestes geben, damit es dir bald besser geht. Und es
wird
dir besser gehen.”
Seine Augen wandten sich ihr wieder zu, und sie hätte alles dafür gegeben zu wissen, was er gerade dachte.
“Nun, ich wollte nur, dass du das weißt”, wisperte sie und fühlte sich etwas seltsam, weil sie ihm
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