Sweetgrass - das Herz der Erde
das ich mit den Körben verdient habe, beiseitegelegt, um meinen Kindern das College bezahlen zu können. Kinder wie meine Maize wollen eine gute Schulbildung, damit sie später mal gute Jobs bekommen. Darum geht es ihnen. Nicht ums Korbmachen. Da muss schon so eine alte Schachtel wie ich kommen und versuchen, die Tradition weiterzugeben.”
Mama June lachte und sagte: “Vielleicht fangen die, die hierbleiben, irgendwann einmal wieder damit an.”
“Könnte sein”, stimmte Nona zu und dachte an ihre eigene Tochter. “Es ist so ähnlich wie mit dem Fahrradfahren, nehme ich an. Wollen wir nur hoffen, dass dann auch noch Sweetgrass für sie da ist.”
“Warum sollte denn keins mehr da sein?”
Nona starrte Mama June mit ungläubigen Augen an. “Herzchen, schau dich doch mal um, was hier vor sich geht. Wo soll das Gras denn noch herkommen? Es ist schon so gut wie verschwunden.”
Mama June war bestürzt angesichts der Endgültigkeit in Nonas Stimme. “Verschwunden? Aber wie kann das sein? Es wuchs doch überall!”
“Wir konnten auch früher immer überall hin. Ohne Grenzzäune. In der gesamten Gemeinde von Christ Church konnten wir in die Wälder gehen und uns Palmblätter und Sweetgrass holen. Aber das ist schon viele Jahre her. Das ganze Land ist für den Häuserbau draufgegangen. Kennst du noch das Land der Mitchells?”
Als Mama June nickte, fuhr Nona fort: “Früher sind viele von uns dort hingegangen, um Gras zu sammeln. Jetzt ist alles eingezäunt, weil auf dem Besitz demnächst noch mehr Häuser gebaut werden.”
“Dieses Stück Land ist seit Jahren als Bauland ausgewiesen, und nie ist etwas passiert. Könnt ihr nicht trotzdem das Gras sammeln? Das stört doch niemanden.”
“Nein. Niemand darf über den Zaun. So wie anderswo auch. Die meisten Felder sind längst weg. Um Gras zu bekommen, müssen wir längst den ganzen Weg bis nach Georgia oder Florida fahren und werden arm dabei. Ein paar von uns haben ihre Geheimplätze, so wie ich. Aber selbst an den Stellen muss man damit rechnen, dass es verschwindet.”
Mama June setzte sich in ihrem Stuhl auf. “Wieso weiß ich davon nichts? Man sollte doch meinen, dass es sich herumspricht, wenn das Sweetgrass nach und nach verschwindet. Wahrscheinlich wissen die meisten gar nicht, was da passiert. Kann man es nicht wieder neu anpflanzen?”
“Natürlich kann man das. Wenn die Grundbesitzer in der Gegend das tun würden.”
“Ich habe etwas gelesen über ein Stück Land nur für Sweetgrass. Was ist denn damit?”
“Weiter landeinwärts bei der Dill Plantage. Ja, sie haben es versucht. Das war so eine Art Experiment. Doch das Gras war nicht gut. Verstehst du, das Land war zu fruchtbar. Es gab jede Menge Unkraut, und niemand hat sich so richtig darum gekümmert. Das ist ja genau der Punkt: Das Gras ist zu dünn und zu weich. Zu gerade. Das Gras, das in der Nähe der Sümpfe wächst, ist gebogen. Schau doch selbst”, sagte sie und reichte Mama June einen Halm des Sweetgrass.
“Das Gras muss im Boden einen schweren Stand haben, damit man es für die Körbe verwenden kann.”
Mama June spürte die Geschmeidigkeit des gebogenen Halms, der trotz kümmerlicher Erde und mit wenig Wasser stark und widerstandsfähig gewachsen war. Sie fand, dass man dasselbe auch von den Menschen sagen konnte, die die Körbe herstellten. Der Triumph jahrhundertelangen Widerstands und Aufbegehrens gegen die ungerechte Behandlung war in jedem einzelnen Stück des Kunsthandwerks ablesbar.
“Das heißt”, sagte sie nachdenklich, während sie es sich klarmachte, “es ist dieses Sweetgrass, das hier an der Küste wächst, das du für deine Körbe brauchst.”
Nona nickte und spürte, worauf Mama June hinauswollte. “Meine Familie hat dort draußen das Gras gesammelt, solange man nur denken kann. Meine Familie hat genau wie deine eine Bindung an dieses Land. Es ist unser Heiligtum.”
“Dann betrifft dich das ebenso. Wenn ich Sweetgrass verkaufe, meine ich.”
“Das hat mir schon schlaflose Nächte bereitet.” Nona seufzte und legte ihre Arbeit in den Schoß. “Aber ich kann nichts dagegen tun.”
“Und ich habe die Befürchtung, dass ich auch nicht allzu viel machen kann.”
“Es kommt mir einfach nicht richtig vor. Warum willst du überhaupt verkaufen? Nicht du, meine ich”, beeilte sie sich hinzuzufügen. “Ich meine, die Blakelys. Morgan ist doch zurück. Hat er denn kein Interesse an diesem Stück Land? Oder Nan? Und was ist mit Adele? Gott weiß, sie
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