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Sweetgrass - das Herz der Erde

Sweetgrass - das Herz der Erde

Titel: Sweetgrass - das Herz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
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getan. Er hatte ihr so viele schöne Dinge gesagt. Doch hatte er diese Worte wirklich gesagt? Sie konnte sich einfach nicht mehr erinnern.
    Sie erinnerte sich, wie der Greyhound-Bus von der Haltestelle weggefahren war und wie ihr die Nachmittagssonne direkt ins Gesicht geschienen hatte. Sie konnte nur noch die schmalen Umrisse von Tripp erkennen. Für einen Moment überkam sie Panik, ihn zu verlieren. Sie kämpfte mit dem Fenster und fingerte an dem kleinen Metallklötzchen herum, bis es schließlich aufging. Der Bus machte eine Kurve, und die Sonne wurde von dem Wipfel einer mächtigen Eiche verdeckt. Und endlich konnte sie sein Gesicht erkennen, das nach ihr suchte. Sie streckte ihre Hand aus und winkte.
    “Tripp! Tripp!”
    Seine Miene erhellte sich, und ein Lächeln überzog sein Gesicht. Diesen Gesichtsausdruck würde sie ihr Leben lang in Erinnerung behalten. Sein Arm schoss hervor, als wollte er nach ihr greifen, und er winkte ihr zu.
    “Schreib mir!”, rief sie über den lauter werdenden Motor hinweg.
    “Mach ich!”, rief er zurück.
    “Versprochen?”
    “Versprochen!”
    Die Briefe!
    Mama June griff sich erschrocken an den Hals, als es sie wie ein Blitz durchfuhr. Wo sind die Briefe?, überlegte sie. Was hatte sie mit ihnen gemacht? So viele Jahre hatte sie nicht daran gedacht. Trotzdem war sie sich ziemlich sicher, dass sie sie nicht weggeworfen hatte. Es war nicht ihre Art, nachlässig mit Dingen umzugehen, die ihr so viel bedeuteten.
    Sie zermarterte sich das Hirn und vertrieb die Verwirrung, indem sie sich konzentrierte. Und mit einem Mal wusste sie, wo sie suchen musste. Schnell schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und die Hausschuhe. Sie nahm aus einer Schublade ihres Schreibtisches einen schwarzen Samtbeutel und steckte ihn in die Tasche ihres Morgenmantels. Zielstrebig ging sie den Flur entlang und öffnete die Tür zum Dachboden.
    Ein Schwall heißer feuchter Luft, die modrig roch, ergoss sich in den Flur. Mama June tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter und fand ihn schließlich. Ein schmaler Lichtstreifen fiel aus einer einzelnen Glühbirne, genug um den Weg nach oben zu finden, in den großen Raum unter der Dachschräge.
    Sie kam nur noch selten hierherauf, und im Sommer war die Hitze fast unerträglich. Als sie das obere Ende der Treppe erreichte, fühlte sich der Dachboden seltsam fremd an. Abweisend. Sie hustete kurz, und in ihrer Nase kitzelte der Staub, der in einer dicken Schicht über allem lag. Fein gewobene Spinnennetze hingen vor den Dachfenstern wie zerfetzte Spitzengardinen. Verräterische Mäusespuren und leere Panzer von Kakerlaken kündigten an, dass nicht alles die Jahre unbeschadet überstanden hatte.
    Was hier alles herumlag! Warum in aller Welt hebe ich das eigentlich alles auf?, überlegte sie. Aber sie wusste, warum. Weil sie eine ausgeprägte Abneigung besaß, Dinge wegzuwerfen, die einen ideellen Wert hatten. Wie seltsam, dachte sie, die Vergangenheit aufzubewahren, sich aber nicht darum zu kümmern.
    Sie schaute in ein paar der zahllosen Kisten, widerstand aber der Versuchung, herumzustöbern. Es waren so viele, und es war schon so spät. Das war nicht der Grund, warum sie hergekommen war.
    Stattdessen ging sie zum hinteren Ende des Dachbodens, wo einige Koffer an der Wand standen. Der kleinste von ihnen verschwand fast unter mehreren Pappkartons. Sie holte ihn aus seinem Versteck, zog ihn ins Licht und kniete sich davor. Dann hielt sie einen Moment inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die schwarzen Metallbänder des alten Koffers glänzten unheimlich im fahlen Licht. Er war viel kleiner als in ihrer Erinnerung. Das Leder war mit einer Schicht Schimmel überzogen, der an ihren Fingern kleben blieb. Sie griff in ihre Manteltasche und holte den Samtbeutel hervor. Ein kleiner Messingschlüssel fiel daraus in ihre Handfläche. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Trotz der Jahre öffnete sich das Schloss sofort. Als sie den Koffer öffnete, roch es durchdringend nach Zedern und Moder, doch die Sachen darin waren offenbar trocken geblieben.
    Vorsichtig strich sie mit den Fingern das Papier zur Seite, das den Inhalt des Koffers schützte. Sie wusste nicht mehr genau, was sie vor so langer Zeit in den Koffer getan hatte. Aber es waren ihre größten Schätze. Als Erstes zog sie drei zerbrechliche Gipsabdrücke kleiner Hände heraus und fuhr mit den Fingern sacht über die Namen, die darauf standen:
Morgan. Hamlin.

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