Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sweetgrass - das Herz der Erde

Sweetgrass - das Herz der Erde

Titel: Sweetgrass - das Herz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
Vom Netzwerk:
im Zimmer kein Licht mehr brannte.
    Zurück in ihrem eigenen Schlafzimmer wusch sie sich den Staub und den Dreck aus dem Gesicht und genoss den kühlen Waschlappen auf ihrer erhitzten Haut. Sie cremte sich das Gesicht ein. Mittendrin unterbrach sie sich und starrte ihr Spiegelbild an. Sie ließ den Arm sinken und beugte sich vor. Sie kannte die Konturen ihres Gesichts ganz genau, jede Falte, jeden Fleck, der über die Jahre dazugekommen war. Und noch immer konnte sie hinter diesem älter werdenden Gesicht das Mädchen entdecken, das sie stets geblieben war und das sie wissend anschaute.
    “Du Närrin”, murmelte sie und sah ihrem Spiegelbild fest in die Augen. “Du dumme alte Närrin.”
    Auf dem stickigen Dachboden, als sie die Worte wieder und wieder gelesen hatte, hatte sie ihre mädchenhaften Vorstellungen endlich überwunden und gelesen, was Tripp ihr
zwischen
den Zeilen gesagt hatte. Eine einfache Wahrheit, die sie nie hatte wahrhaben wollen.
    Tripp hatte sie nie wirklich geliebt.

12. KAPITEL
    “S ie kommen irgendwann darauf zurück. Ich habe mich auch nicht dafür interessiert. Ich habe bestimmt zehn Jahre lang keine Körbe gemacht, bis ich alt genug war, um dieses Handwerk schätzen zu lernen.”
    (Annie Scott, Korbmacherin)
    Nona zog die Damastdecke aus dem Wäschekorb und befühlte den feinen Leinenstoff. Mit dem Alter war er weich wie Butter geworden – und auch ungefähr so gelb. Dieses Tischtuch hatte so viele Sonntagsessen der Familie erlebt, so viele Geburtstage, Jahrestage und Examensfeiern. Ein Lebensalter an Familienerlebnissen hing an diesem Erbstück. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie die alte Mrs. Blakely in der Küche bitterlich geweint hatte, weil ein Gast ein ganzes Glas Rotwein darüber ausgeschüttet hatte. Aber Nona hatte den Stoff bearbeitet, Tag für Tag, beharrlich und sorgfältig, bis sie den Fleck entfernt hatte. Dieses Tischtuch begleitete die Blakelys schon länger, als sie es tat. Welche Geschichten könnte dieser Stoff erzählen!
    Welche Geschichten könnte sie erzählen.
    Vorsichtig legte sie das Tischtuch auf das Bügelbrett und strich es mit der Hand glatt. Seit 68 Jahren hatte sie mit den Blakelys zu tun. Vierzig davon hatte sie als Hausmädchen gearbeitet. Vier Jahrzehnte, in denen sie sich um das Haus gekümmert, Essen gekocht und die Erbstücke gepflegt hatte … und die Flecken darauf, dachte sie reumütig, während sie ein paar Fussel und Hundehaare vom Leinen strich. Ihr Blick glitt liebevoll über den Stoff, den sie besser kannte als sonst jemand, sogar besser als Mary June. So viele Flecken hatte sie über die Jahre davon entfernt, mit denen jeweils eine Geschichte verbunden war, und nicht ein Fleck war mehr darauf zu sehen. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass zu den Pflichten eines Hausmädchens gehörte, niemals über die Familie zu sprechen, und Nona wusste, dass sie ihre Pflicht treu erfüllt hatte.
    Sie leckte sich den Finger und prüfte das Bügeleisen – es war heiß genug. Dann griff sie hinüber zum Radio, schaltete ihren Lieblingssender ein und begann mit der Arbeit. Sie bügelte gern. Die gleichmäßigen Bewegungen beruhigten sie, und sie konnte gut dabei nachdenken.
    Die Küchenfenster zum Meer hin waren weit geöffnet, und in der Nähe summte ein Ventilator, der Kühlung verschaffte. Sie wusste, dass es schon in ein paar Wochen so schwül werden würde und die Moskitos so lästig werden würden, dass sie die Fenster geschlossen halten und die Klimaanlage einschalten müsste. Also genoss sie die letzten schönen Tage mit morgendlichem Jasmin- und Geißblattduft und einem guten Baseballmatch im Radio.
    Sie hatte gerade angefangen zu bügeln, als Morgan hereinkam. Er trug eine ausgefranste Khakihose und ein ausgeblichenes Polohemd. Seine braunen Haare, die er zurückgekämmt hatte, waren noch feucht, und er roch nach frischer Seife. Er hatte sich nach seinem Morgenlauf wahrscheinlich gerade frisch gemacht. Sie betrachtete seinen schäbigen Aufzug und fragte sich, wozu sie seine Hosen eigentlich bügelte.
    “Da kommt unser Spitzbube”, murmelte sie.
    Er grinste liebevoll und lief zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. “Guten Morgen, meine Schöne.” Er hielt die Nase hoch in die Luft und schnupperte. “Rieche ich da etwa Kaffee?”
    “Frisch aufgebrüht.”
    “Du bist ein Schatz.” Er stürzte sich auf seine Beute wie der Spürhund seines Großvaters. “Möchtest du auch eine Tasse?”
    Nona schüttelte den Kopf.

Weitere Kostenlose Bücher