Sweetgrass - das Herz der Erde
“Ich habe schon eine. Aber du kannst mir noch etwas nachgießen.”
“Wer spielt denn?”, fragte er und nickte in Richtung Radio, aus dem quäkend die Stimme eines Sportreporters drang.
“Die Cubs.”
“Chicago? Bist du immer noch ein Fan?”
Sie war Cubs-Fan seit dem Moment, als ihr Bruder sie zu einem Spiel mitgenommen hatte. Kurz nachdem er dorthin gezogen war, hatte sie ihn in Chicago besucht. Sie hatte zugesehen, wie Ernie Banks zwei Homeruns geschafft hatte, und war seither ein treuer Fan. Mindestens zwei Bügeleisen waren ihr über die Jahre kaputtgegangen, weil sie bei einem Sieg der Cubs außer sich geraten war vor Freude.
“Einmal Cubbie, immer Cubbie. Das wird man nicht mehr los. Aber jetzt verlieren sie.”
Er drehte das Radio ab und brachte die Kaffeekanne, um ihr nachzugießen. Sein Blick fiel auf das Tischtuch.
“Weißt du, ich glaube, meine liebsten Erinnerungen sind die von Momenten, in denen ich hier gesessen und dir zugeschaut habe, wie du dieses Tischtuch bügelst.”
Nonas Miene erhellte sich, als sie daran zurückdachte. Sie beobachtete, wie Morgan es sich auf einem Stuhl bequem machte. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder den kleinen Jungen, der er damals gewesen war, dünn wie eine Bohnenstange und mit Haaren, die sich wegen der feuchten Hitze in kleinen Löckchen um seinen Kopf kräuselten. Tag für Tag kam er in die Küche, um Zeit mit ihr zu verbringen. Manchmal bügelte sie, manchmal kochte sie oder buk etwas – und dann durfte er die Schüssel auslecken. Sie sprachen über nichts Bestimmtes, doch Nona wusste, dass der Junge eine Zuflucht brauchte, wo er ohne Sorge oder Zurechtweisung offen reden konnte. Nach Hamlins Tod wurde die Küche diese Zufluchtsstätte. Und selbst noch als Teenager, wenn die meisten Jungen die Zähne nicht mehr auseinander bekamen, musste Morgan nur über die Schwelle treten, und seine Zunge löste sich. Sie hatte immer still in sich hineingelächelt, wenn irgendjemand ihr gegenüber äußerte, was für ein schweigsamer Kerl Morgan doch war.
Dieser Junge war der Grund, warum sie so lange auf Sweetgrass geblieben war und warum sie bald nach ihm gegangen war.
“Was glaubst du, wie lange bügelst du dieses Tischtuch schon?”, fragte Morgan.
“Komisch, dass du danach fragst. Darüber habe ich selbst eben nachgedacht. Es lässt sich kaum noch nachvollziehen, aber es werden um die vierzig Jahre sein.”
“Hört sich wie eine Gefängnisstrafe an.”
“Mit vorzeitiger Entlassung wegen guter Führung.”
Sein Lächeln wurde ernst. “Es bedeutet mir und allen anderen so viel, dass du zurückgekommen bist, um uns zu helfen. Auch wenn es nur für eine Weile ist.”
Nona presste das Bügeleisen auf das Tischtuch. “Ich hätte ja wohl kaum jemand anders an dieses Tischtuch lassen können, oder?”
“Du hast als junges Mädchen hier angefangen, oder?”
“Ich habe immer meine Mutter begleitet, als sie noch hier gearbeitet hat”, erklärte Nona, während sie konzentriert bügelte. “Meistens habe ich mit deinem Vater und Adele gespielt. Wir sind ein paarmal zusammen zum Angeln rausgefahren oder haben Eidechsen gefangen. Ich glaube, als ich langsam älter wurde, habe ich angefangen, halbtags hier zu arbeiten, und als ich achtzehn war, dann ganztags. Und ein paar Jahre danach kam deine Mutter hierher.”
Morgan grinste. “Also habt ihr sozusagen gemeinsam euren Dienst hier angetreten.”
Nona kicherte und schüttelte den Kopf.
“Wie war sie damals?”
Nona besprühte das Leinen. Die Wassertropfen hinterließen ein Muster auf dem Stoff. “Deine Mutter war eine gute Frau”, antwortete sie aufrichtig. “Warmherzig. Vielleicht mehr, als gut für sie war. Sie war eine echte Lady, und jeder hat sie auf Anhieb gemocht.”
“Sie ist immer so müde in letzter Zeit”, bemerkte er. “Sie lädt sich einfach zu viel auf.”
Nona hatte die Ringe unter Mary Junes Augen gesehen, doch sie glaubte nicht, dass die Erschöpfung von der vielen Arbeit kam. Auch Morgan hatte dunkle Ringe unter den Augen. In dieser Familie arbeitete es unter der Oberfläche. Sie seufzte. So war es immer schon gewesen.
“Sie schläft nicht besonders gut”, erwiderte sie.
Morgan entgegnete darauf nichts. “Was ist mit Daddy? Wie war er, als er jung war?”
Nona sah ihn forschend an. Er wollte also auf etwas Bestimmtes hinaus, dachte sie. Immerhin war er eine ganze Weile weg gewesen. Jetzt wo sein Vater krank war, suchte er nach ein paar Antworten, bevor es zu spät
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