Sydney Bridge Upside Down
merkte man einfach. Selbst wenn sie ihn geküsst hätte, da war ich mir sicher, hätte er die Sache nicht anders gesehen. Nun wandte sie sich in ihrer netten Art wieder mir zu: »Du siehst so verträumt aus, Harry, bist du müde?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ein Wort herausbrachte. »Nein«, sagte ich, »ich bin nicht müde. Möchtest du unsere Ingwerbrause probieren?« Ich sprang auf, um ihre eine Flasche zu holen.
»Caroline würde bestimmt lieber eine Tasse Tee haben«, sagte Papa, hopste schon zum Herd und schnappte mir den Kessel weg. »Morgen kannst du die Ingwerbrause probieren, Caroline«, sagte er und hüpfte zur Spüle. »Du hast mehr davon, wenn du eine Weile in der Sonne warst.« Er füllte den Kessel, stellte ihn wieder auf den Herd, schob etwas Holz nach und fragte mich: »Was möchtest du Caroline denn morgen zeigen?«
»Vielleicht den Wasserfall«, sagte ich.
»Zu weit«, meinte er. »Am ersten Tag wäre es besser, wenn ihr in der Nähe bleibt.« Und mit einem Lächeln wandte er sich an Caroline: »Gehst du viel spazieren in der Stadt?«
»Nein, Onkel Frank, nicht so viel«, sagte sie, »aber ich würde gern mit Harry und Cal zum Wasserfall gehen.«
»Da muss man richtig klettern«, sagte Cal, »der Weg zum Wasserfall ist steil.«
»Es ist besser, wenn man am Fluss entlanggeht«, sagte ich und dachte, dass wir ihr viel interessantere Orte zeigen konnten, den Schlachthof zum Beispiel, das durfte Papa aber nicht mitkriegen.
»Bestimmt ziemliches Hochwasser morgen«, sagte Papa. »Bei dem Regen.«
»Da ist dann eine Menge Treibholz«, sagte Cal.
»Einmal haben wir eine Leiche gesehen, die runtergetrieben ist«, sagte ich zu Caroline, »das war so ein Landstreicher, der ertrunken ist.«
Caroline blickte traurig.
»Mr Kelly hat ihn rausgefischt«, sagte ich.
»Das reicht jetzt aber«, sagte Papa und hopste zum Teekessel. »Solche unseligen Geschichten will Caroline doch nicht hören. Oder, Caroline?«
»Ich find’s nicht schlimm, Onkel Frank«, sagte sie, sie machte schon nicht mehr so eine traurige Miene. »Wir wissen ja, dass die Menschen irgendwann sterben müssen, der Tod ist nichts Besonderes. So viele Menschen sterben, immer und überall, Tausende, jeden Tag und jede Nacht, viele, viele Tausende.«
Auf einmal war es sehr, sehr still in unserem Haus.
Alle sahen Caroline an. Ihre Stimme war ruhig gewesen, sanft, einfach lieb. Und doch hatte mich ein kühler Hauch gestreift, als ich ihr zuhörte, ich weiß nicht, warum. Papa und Cal war es auch nicht entgangen, das war klar. Papa stand am Herd, er hielt den Kessel in der Hand. Cal, der die ganze Zeit an seinem Platz am Tisch gesessen und mit einem Teelöffel rumgespielt hatte, war wie gelähmt. Niemand sagte etwas. Erst als es laut an der Tür hinten klopfte, kamen wir zu uns.
»Wir erwarten niemanden«, sagte Papa und hüpfte mit dem Kessel zum Tisch.
Cal war schneller als ich.
In der Tür stand Mr Wiggins. Er klopfte seinen Südwester an der klatschnassen Öljacke ab.
»Es ist Mr Wiggins!«, rief ich über die Schulter und zerrte Cal zur Seite, um Mr Wiggins durchzulassen. Ich bekam einige Regentropfen ab.
»Komm rein, Chick«, sagte Papa. »Du kommst gerade richtig, wir haben Tee gemacht. Zieh die Sachen aus.«
»Ich kann nicht lange bleiben, Frank«, sagte Mr Wiggins und zog die Öljacke aus. »Ich hab die kleine Prosser nach Hause gebracht, wollte nur mal kurz reinschauen und hören, ob du ein bisschen was haben willst diese Woche, ich habe gehört, dass du noch jemanden mit durchfütterst.«
Während er redete, starrte er die ganze Zeit Caroline an. Sie war vom Tisch aufgestanden, als er eingetreten war, und ich hatte mich einen Augenblick lang gefragt, ob sie auf ihn zuging, um ihm einen Kuss zu geben. Aber sie lächelte ihn nur an, das schien zu genügen.
»Ja, meine Nichte wird eine Weile bei uns wohnen«, erklärte Papa. »Chick, das ist Miss Caroline Selby. Sie kommt aus der Stadt. Caroline, Mr Wiggins liefert uns jede Woche Fleisch, er ist ein wichtiger Mann. Setz dich doch, Chick.«
»Ich muss weiter«, sagte er und ließ Caroline nicht aus den Augen, »also gut, ein Tässchen nehm ich schon.«
Ich beobachtete Mr Wiggins, während Papa den Tee eingoss. Seit Papa vor einigen Monaten gesagt hatte, dass Mr Wiggins ein richtiger Frauentyp sei, hatte ich keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu beobachten, ich sah ihn mindestens einmal die Woche, wenn er seinen Liefertermin einhielt, und öfter, wenn er
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