Symphonie des Lebens
falsch, dachte er. Auch was sie erzählt, ist eine einzige charmante Lüge. Es muß einen anderen Grund geben, warum sie ihre vollkommene, kühle Schönheit gegen eine andere, glühendere eintauschen will.
Und noch etwas quälte Dr. Lombard … schon beim Eintritt Carolas in sein Zimmer hatte er verwundert aufgeblickt und sich an etwas zu erinnern versucht.
Ich kenne sie, hatte er gedacht. Irgendwo, irgendwann habe ich sie schon gesehen. Es ist nicht unsere erste Begegnung.
Aber sosehr er grübelte, kam er nicht darauf, daß es vor zwei Jahren gewesen war. Nach einem Donani-Konzert hatte man ihn Frau Donani bei einem Festessen vorgestellt. Es war nur ein flüchtiger Blick gewesen … aber ein Hauch von Erinnerung und Erkennen war zurückgeblieben –
*
Das Orchester erwartete seinen Chef in Köln. Es saß auf dem Podium des großen Gürzenichsaales, so wie es bei Hunderten Proben immer gesessen hatte, hemdsärmelig, guter Laune, die Instrumente stimmend, die Noten studierend. Daß in der letzten Reihe der ersten Geigen am Platz des Franzosen Jean Leclerc ein neuer Geiger saß, der nun zum erstenmal unter Donani proben würde, fiel überhaupt nicht auf. Es war vorauszusehen, daß auch Donani es nicht bemerkte, wenn der Neue nicht daneben griff und vom abwinkenden Taktstock Donanis nicht symbolisch aufgespießt wurde.
Pietro Bombalo hatte die Parole ausgegeben, die jeder im Orchester befolgte, als sei es eine Sinfoniepassage: Kein Wort über den Unfall, kein Mitleid zeigen, keine sauertöpfigen Mienen, kein Händedruck mit dem verschleierten Blick, in dem Donani lesen konnte: Armer Kerl …
»Wer auch nur eine Spur von Mitleid zeigt, den entmanne ich!« hatte Bombalo in seiner drastischen Art angedroht. »Es hat sich überhaupt nichts geändert, verstanden? Vorgestern war Probe, gestern, heute und morgen … die Tage, die fehlen, vergessen wir einfach.«
Bernd Donani empfand es wirklich als wohltuend, daß die Musiker wie immer gegen ihre Instrumente schlugen, als er aus dem Künstlerzimmer sich durch die Reihen schlängelte und ans Pult trat. Er begrüßte den Ersten Konzertmeister und lächelte nach allen Seiten.
»Guten Morgen, meine Herren«, sagte er. Beim ersten Wort war seine Stimme noch belegt, aber am Ende des Satzes hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Er sah auf die aufgeschlagene Partitur vor sich und klappte sie zu. Borodins Steppenskizze, er kannte sie auswendig. Sie ist eine Kleinigkeit für einen Dirigenten, der einmal ›Die Meistersinger von Nürnberg‹ aus dem Kopf dirigierte.
Donani nahm den Taktstock auf und blickte über sein Orchester. Er sah die erwartungsvollen Augen, die Holzbläser hatten ihre Instrumente schon angesetzt, man erwartete das Zeichen seiner Hand, unter der die Steppe Mittelasiens sich in Töne verwandeln sollte.
Plötzlich ließ Donani die Hände wieder sinken. Der Erste Konzertmeister wurde unruhig und sah sich um.
»Wo ist Herr Leclerc?« fragte Donani.
»Herr Leclerc?«
»Auf seinem Platz sitzt ein anderer Herr. Bitte, wie heißen Sie?«
Der neue Geiger stand innerlich bebend auf. »Franz Schultes«, sagte er wie auf dem Kasernenhof.
»Danke.« Donani winkte ab. Der Erste Konzertmeister trat an das Pult.
»Herr Leclerc hat vor einigen Tagen gekündigt. Er sagte, er wolle –«
»Ich weiß, ich weiß.« Donani schnitt mit einem Fächeln seiner linken Hand den Bericht des Konzertmeisters ab. »Wünschen wir ihm Glück, nicht wahr?« Er straffte sich und hob wieder den Taktstock. »Meine Herren … wir können –«
Während die ersten Takte der Steppenskizze aufklangen, der klagende Ton der Hirtenweise, die unendliche Einsamkeit der Steppe, die Weite von Himmel und Land, dachte Donani kurz an Jean Leclerc. Er wird es nie zum Solisten bringen, dachte er. Ein Künstler muß Kritik vertragen können. Wer sich schon in Jugendjahren als unfehlbar betrachtet, wird elend an seiner Selbstüberschätzung zugrunde gehen. Eigentlich war es schade … wenn auch kein Genie, war Jean Leclerc doch ein begabter Orchesterviolinist gewesen.
In der Tür des Künstlerzimmers stand Pietro Bombalo und beobachtete Donani mit der gespannten Wachsamkeit, wie ein Irrenarzt seinen Patienten bewacht, an dem er einen Test versucht. Ein Mann wie Donani kann nicht ohne Musik leben, war die Ansicht Bombalos. Und er kann und darf auch nicht ohne Frauen leben. Die Innigkeit der Kunst wird im Schoß der Frauen geboren. Aus dieser simplen Erkenntnis erwuchsen die unsterblichen
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