Symphonie des Lebens
Operette ›Paganini‹ … Nr. 3: Orchester des Staatlichen Rundfunks Amsterdam. Nr. 4: – das ist ein Knüller – Geiger bei der internationalen Schaukapelle Tommy Felten … Sie kennen die Feltens ja vom Fernsehen –«
Jean Leclerc hob die Hand, der Redestrom Bartschlegers verebbte. »Ich dachte, ich könnte …« Leclerc schluckte mehrmals. »Als Solist, meine ich … auf dem Konzertpodium … mit einem namhaften Orchester …«
»Das kommt alles … Erst muß man eine Plattform haben.«
»Bei Tommy Felten –«
»Es sind 250 Dollar, Herr Leclerc –«
»Aber ich kann doch etwas!« schrie Leclerc plötzlich. »Ich habe doch bewiesen, daß ich spielen kann! Ich habe Bach studiert … Brahms … Tschaikowskij … ich kann doch etwas –«
»Wer zweifelt das denn an?« Hans Bartschleger wedelte mit der neuen Karteikarte, als sei es tropisch heiß im Zimmer. »Denken Sie an Paganini … der fing als Jahrmarktsgeiger an –«
Am Abend verließ Jean Leclerc den Kontinent und flog von Köln-Wahn aus nach London. Er hatte noch 720 DM in der Tasche. Aber leerer als sein Portemonnaie war sein Herz. Es war wie abgestorben. Nur ein Gedanke beherrschte ihn, und es war das Bitterste, was ein Mensch denken kann: Ich hasse diese Welt, dachte er. Zum letztenmal – in London – werde ich mich bemühen, ehrlich zu sein. Ich weiß, auch dieses letzte Mal wird sinnlos sein. Die Welt will betrogen werden! Nur der Skrupellose erreicht das Ziel seiner Wünsche … nicht den Bettler achtet man, sondern den Dieb. Mit London werde ich den letzten Rest des guten Menschen in mir begraben. Ich werde zum Raubtier werden … man will es ja nicht anders …
Es war Nacht, als er in Croydon landete. Ein Zubringerbus brachte ihn nach London.
Auch in dieser Nacht schlief Jean Leclerc nicht … er machte sich gar nicht die Mühe, in Soho oder Whitchapel ein Hotelzimmer zu suchen.
Zum erstenmal in seinem jungen Leben soff er, bis er umfiel. Und er fand es herrlich.
*
Mit äußerster Vorsicht und einem künstlerischen Fingerspitzengefühl veränderte Dr. Lombard in täglichen kleinen Operationen das Gesicht Carola Donanis. Er raffte die Gesichtshaut, er veränderte den Brauenschwung, er nahm winzige Knorpelstückchen aus den Ohren und formte sie um. Dann – als letztes, gewissermaßen als Generalprobe – ließ er die Haare schwarz färben und sie nach spanischer Art frisieren.
»Herrlich!« sagte Schwester Anne, als Carola unter der Trockenhaube hervorkam. »Sie sind wirklich ein ganz neuer Mensch, Madame –«
Carola schwieg. Die Erregung machte sie stumm. Sie wandte den Kopf um und suchte nach einem Spiegel. Aber nirgendwo war eine blanke Scheibe, selbst die Fenster waren aus Milchglas und spiegelten nichts wider.
»Noch eine Woche, Madame.« Dr. Lombard betrachtete sie wie ein Maler sein fertiges Gemälde, kritisch, in der Hoffnung, durch Aufsetzen einiger Lichter noch mehr an Wirkung herauszuholen. »Noch ahnt man die Narben hinter den Ohren und an den Nasenseiten. In einer Woche ist es so weit, daß man durch ein leichtes Make-up die letzten Spuren überdecken kann …«
»Und wie … wie sehe ich aus, Doktor …«, fragte Carola kaum hörbar. Dr. Lombard hob die Hand und führte Zeigefinger und Daumen an die Lippen.
»Unbeschreiblich! Carmen war ein Dorftrottel dagegen.«
»Wirklich –?«
»Mein Ehrenwort, Madame …«
Carola sah Dr. Lombard kritisch an. Er log nicht, sie erkannte es an seiner ehrlichen Begeisterung.
»Ich … ich werde nicht vor mir erschrecken, Doktor?« fragte sie noch einmal. Dr. Lombard wurde plötzlich ernst und nickte.
»Doch, Madame …«
»Doch?«
»Sie haben sich in Erinnerung … und wenn Sie sich in einer Woche wiedersehen werden, ist es nicht mehr Ihr Gesicht. Und doch ist es Ihr Gesicht … Das zu begreifen, das anzuerkennen, wird ein Schock sein. Sie werden sich an sich selbst erst gewöhnen müssen.«
»Es wird nicht so schwer sein, Doktor.« Carola lächelte verkrampft. In den vergangenen Wochen hatte sie sich immer diese Minute vorgestellt: Ich werde einen Spiegel bekommen, ich werde ihn vor mein Gesicht halten, und mir wird eine fremde Frau entgegensehen, die meine Stimme hat, meine Worte spricht, die Lippen nach meinen Sätzen formt … ich werde mich ansehen und mich betrachten wie eine Begegnung mit einer Fremden. Und ich werde mir immer vorsagen müssen: Du bist es. Du bist es. Du bist so, wie es dir der Spiegel zeigt … Und du bist nie anders gewesen –
Die Woche, die
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