Symphonie des Lebens
durchschwommenen Himmel und atmete stoßweise und keuchend. Ja, sie dachte sogar ganz klar: Wie ein Maikäfer liege ich da, den man auf den Rücken gedreht hat; aber sie hatte nicht die Kraft, sich umzudrehen und weiterzulaufen. Erst nach etwa einer halben Minute, die ihr wie eine Stunde vorkam, fühlte sie wieder, daß sie ihre Glieder gebrauchen, daß die völlige Erschöpfung nachließ und sie sich aufrichten konnte. Sie klopfte das Gras von ihrem Kleid, atmete ein paarmal tief durch und ging dann weiter die Straße hinunter zu ihrem Hotel.
In ihrem Zimmer warf sie sich aufs Bett und starrte an die Decke. Etwas Merkwürdiges war mit ihr geschehen. Ihre so absolute Todessehnsucht, ihr Wille, mit diesem Tag den Endpunkt ihres Lebens zu setzen, war verschwunden. Sie hatte es schon gespürt, als sie die Kinder im Wald lachen hörte, noch bevor sie sie sah, nur ihre hellen Stimmen waren es, die in ihr alle Selbstzerstörung wegwischten. Dann – als sie Alwine und Babette sah, mit ihnen sprach, als sie durch den Garten schlich, vor dem furchtbaren Mahnmal stand – wurde es ihr immer klarer, daß ein Wegstehlen aus dieser Welt zwar eine Lösung aller Probleme, aber eine ungeheure Feigheit wäre. Wie eine Explosion war es in ihr, als sie Bernd Donani gegenüberstand, als er sie ansah, sie nicht erkannte, als sie seine Stimme hörte und die Gramfältchen um seine Augen bemerkte. Ihre Flucht war nicht ein Weglaufen vor ihm, sondern vor sich selbst. Er könnte mich erkennen, dachte sie. Es war nicht auszudenken, was daraus entstand. Es gibt Dinge, die auch die stärksten Nerven zum Wahnsinn treiben können.
Jetzt, auf dem Bett liegend, sah sie einen neuen Weg – nicht ins Nichts wie vordem, sondern einen Weg zurück zu Donani und den Kindern. Ich muß zurückkommen, so wie ich war … die Carola Donani, wie sie als Fotografie im Kinderzimmer in einem silbernen Rahmen hängt und auf dem weißen Flügel im Musikzimmer steht. Eine Zurückverwandlung mußte stattfinden – war es möglich gewesen, ein Gesicht völlig zu verwandeln, so mußte es auch möglich sein, das alte Gesicht wiederherzustellen.
Carola zögerte nicht lange. Ein ungeheurer, nicht mehr eindämmbarer Wille, wieder Carola und nicht mehr Vera Friedburg zu sein, verscheuchte alle anderen Bedenken. Sie bezahlte die Hotelrechnung, bestellte eine Taxe und ließ sich nach München fahren. Im Büro der Air France hatte sie Glück. Ein Platz der bereits ausgebuchten Maschine nach Paris war zurückgegeben worden. Von Paris nach Marseille gab es Wege genug.
Als die Maschine sich von der Betonpiste abhob und eine Schleife über München zog, um dann auf Kurs Nordwest zu gehen, blickte sie nicht hinaus auf die im Abenddunst liegende Stadt, sondern hatte den Kopf an die Kopfstütze zurückgelehnt und die Augen geschlossen.
Ich werde wiederkommen, dachte sie und klammerte sich an die Hoffnung, wieder Carola Donani zu sein. Ich werde alles beichten, alles … und dann kann er machen, was er will. Er kann brüllen, er kann mich schlagen, mich wie eine Sklavin behandeln, mich mißachten – aber ich werde bei meinen Kindern sein und versuchen, an ihnen gutzumachen, was ich an Bernd Donani gesündigt habe.
In Paris erkundigte sie sich sofort nach einem Weiterflug nach Marseille. An diesem Abend flog keine Maschine mehr, aber der Nachtschnellzug war noch zu erreichen. Sie gab dem Taxifahrer 100 Francs. »Sie müssen den Marseiller Zug bekommen«, sagte sie. »Ich zahle alle polizeilichen Strafen –«
Wie ein Irrer raste der Taxifahrer von Orly nach Paris und durch die Stadt zum Bahnhof. »Das wird eine teure Fahrt, Madame!« schrie er. »Viermal haben die Flies meine Nummer notiert!«
Carola sah auf ihre Armbanduhr. »Noch 14 Minuten. Schaffen wir es?«
»Wenn wir Selbstmörder sein wollen –«
»Ich muß den Marseiller Zug bekommen!«
Zwei Minuten vor der Abfahrt rannte Carola auf den Bahnsteig und riß die Wagentür auf. Der Taxifahrer mit den Koffern wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.
»Das mache ich nie wieder, Madame! Das schwöre ich Ihnen!«
»Sie haben es geschafft.«
»Aber meine Nerven sind für eine Woche hin.«
»Nerven.« Carola lächelte bitter und gab dem Fahrer 500 Francs. »Reicht das?«
»Natürlich, Madame.«
»Ich wünsche Ihnen nicht die Nerven, die ich jetzt haben muß.«
Verblüfft sah der Taxifahrer Carola nach, als sie die Tür hinter sich zufallen ließ und durch den Wagengang ging, um einen Platz in den besetzten
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