syrenka

kontinuierlich rückwärts durch die Zeit zu arbeiten. Aber sie gab ziemlich schnell auf. Es waren viel zu viele Mikrofilme, die ihr die Bibliothekarin einen nach dem anderen holen musste, und das Lesegerät war ein kompliziertes Ding, auf dem man den Film nur langsam vor- und zurückspulen konnte.
    Auf dem Heimweg kam Hester am Friedhof vorbei und ihre Gedanken wanderten wieder zu Linnie. Sie hatte sie nie nach ihrem Nachnamen gefragt. Sonst hätte sie im Internet nach ihr suchen und Kontakt zu ihr aufnehmen und sich erkundigen können, auf welches College sie ging und wie sie heute, mit achtzehn, aussah. Sie könnten in Erinnerungen an ihren unheimlichen Spielplatz, den Friedhof, schwelgen, und Hester könnte sich dafür entschuldigen, dass sie nach dem Zwischenfall mit der Bibel ihre Freundin Linnie einfach fallen gelassen hatte.
    Spontan fuhr Hester auf einen Parkplatz am Burial Hill. Sie stieg aus dem Auto und lief die lange Treppe hinauf, an Grabsteinen vorbei, die ihr nach so vielen Jahren noch vertraut waren. Es war schön hier, musste sie sich eingestehen. Sie sollte öfter hierher kommen, einfach um in dieser ruhigen Umgebung nachzudenken oder zu lesen. Hester schlenderte eine Weile umher, dann ging sie zu einer Bank unter einem alten Baum, an die sie sich noch erinnerte. Das Holz war trocken und zersplittert. Trotzdem setzte Hester sich vorsichtig hin und lehnte sich an. Die abendliche Brise, die vom Meer herüberwehte, war feucht und salzig und einfach herrlich.
    Die drei Grabsteine, vor denen sie saß, waren aus blaugrauem Schiefer. Auf dem ersten befand sich Hesters Lieblingsmotiv, ein rührend volkstümlicher Engelskopf mit Flügeln. Hester las die Inschrift:
    ISAAC ONTSTAAN
    6. D EZ . 1866 – 19. J AN . 1870
    V ERHARRE, F REMDER, NIMM A NTEIL UND FIND
    M ITLEID UND T RAUER FÜR UNSER K IND
    Hester setzte sich auf. Ontstaan war der Nachname ihrer Urururgroßmutter gewesen! Und Hester musste diesen Grabstein doch schon oft gesehen haben, wenn sie früher auf dem Weg von der Schule nach Hause auf dem Friedhof mit Linnie hier bei dieser Bank gespielt hatte! Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie mit sieben Jahren schon den Namen Marijn Ontstaan gekannt hatte. Falls ja, hatte sie sich wohl einfach nicht darum gekümmert.
    Schnell wandte sie den Blick auf die Inschrift des zweiten Grabsteins, über der ein Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen eingemeißelt war:
    H IER LIEGEN DIE STERBLICHEN Ü BERRESTE VON
    MR OLAF ONTSTAAN,
    DER DURCH DIE H AND EINES UNBEKANNTEN F EINDES
    VERSTARB UND SEIN L EBEN AM 8. J ULI 1872 VERLOR .
    O I HR, DEM STILL DIE T RÄNE EILET,
    I N FROMMER E HRFURCHT STEHT UND WEILET.
    M EIN LIEBSTER G ATTE RUHET HIER,
    D EM S OHN EIN V ATER, G EFÄHRTE DIR.
    E IN FURCHTLOSES H ERZ, DEM E DLEN GEWEIHT,
    E IN F REUND ALLEN M ENSCHEN, DEM L ASTER EIN F EIND.
    Und auf dem Grabstein daneben stand:
    E LEANOR HANNAH ONTSTAAN
    E HEWEIB VON MR OLAF ONTSTAAN
    U ND T OCHTER VON MR THOMAS UND MRS RUTH SMYTH
    D ER DAS L EBEN GRAUSAM GENOMMEN WURDE AM
    11. J ULI 1873 IN IHREM 48. J AHR
    E S IST DER G ERECHTIGKEIT DES H ERRN ÜBERLASSEN, DAS B ÖSE ZU STRAFEN .
    Hester durchwühlte ihre Tasche nach einem Stift. Papier hatte sie keins. Daher schrieb sie sich die Daten auf die Hand: Olaf 8.7.1872, Eleanor Hannah 11.7.1873. Sie waren zweifellos irgendwie mit Hester verwandt und beide waren im Abstand von einem Jahr getötet worden! Erfreut lachte Hester auf. Jetzt hatte sie genaue Daten – und mit Sicherheit hatte es in der Zeitung gestanden, als die beiden ermordet worden waren!
    Hester sah auf ihre Uhr. Noch hatte die Bibliothek auf – wenn auch nicht mehr lange.
    Ihre Entdeckung war weitaus spannender, als Hester erwartet hatte. Die Old Colony berichtete, dass man Olafs Leiche in Unterwäsche aufgefunden hatte, in seinem Boot, das sorgfältig an Land gezogen worden war. Sein Hals war durchtrennt und die Lunge auf bestialische Weise aus seinem Körper gerissen worden. Man hatte den Mord niemals aufklären können. Es klang wie die Vorlage zu einem Horrorfilm!
    In aller Eile überflog Hester die Schlagzeilen der Tage nach Eleanors Tod. Eleanor war in der Krypta der First Church of Pilgrims ertrunken, als Opfer eines mutmaßlichen Dreifachmordes. Ertrunken? In einer Krypta? Das war höchst rätselhaft,aber es wurde nicht weiter erklärt. Hester las weiter: Die übrigen Opfer waren ein Geistlicher der Gemeinde, dessen Name nicht veröffentlicht werden sollte, bis man seine Angehörigen ausgemacht