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syrenka

syrenka

Titel: syrenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Fama
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ihre angewinkelten Beine schmerzten, drehte sie sich auf den Rücken und stützte den Kopf gegen die Holzwand. Um halb fünf verzogen sich die Besucher, und Hester sah einen Mann – den Museumswärter? – dreimal am Schlüsselloch vorüberlaufen und sich vergewissern, dass sich niemand mehr in den Räumen befand. Um zehn vor fünf gingen die Lichter aus. Kurz hintereinander fielen zwei Bürotüren zu. Hester beschloss, bis halb sechs in ihrem Versteck zu bleiben. Zur Sicherheit. Und auch, weil die nächsten Schritte ihres Vorhabens – der Diebstahl von Privateigentum, Hausfriedensbruch und das Auslösen des Alarms – wesentlich stressiger zu werden versprachen, als in einer engen Truhe zu liegen und abzuwarten. Plötzlich fürchtete sie sich bei der Vorstellung, diesen Ort zu verlassen. Nachdem sie sich die ganze Zeit gewünscht hatte, dass es endlich so weit sei.
    Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie weiterlas.
    Die außergewöhnlichste Fähigkeit, über die alle weiblichen Individuen dieser Art verfügen und die für die Menschheit wahrscheinlich die größte Versuchung darstellen würde, ist nicht nur die Gabe, Wunden heilen zu lassen ‒ sogar die schlimmsten ‒, sondern dass sie auf wundersame Weise – unter günstigen Umständen und vorausgesetzt, sie verfügen über passendes Material – die Fertigkeit besitzen, Lebende vor dem nahen Ableben zu bewahren oder sogar unlängst Verstorbene vor dem endgültigen Tod.
    Die kleine Laterne flackerte und leuchtete schwächer, da die Batterien allmählich leer wurden. Hester schüttelte sie, aber das Licht ließ rasch nach.
    Doch sind solcherlei Leistungen nicht ohne Kosten zu erringen, da das Naturgesetz des Überlebens im Reich unter den Meeren auf gleiche Weise regiert wie in unserer irdischen Welt. Kurz: Alles hat seinen Preis, und in der Praxis stellt sich der Tausch als ebenso schweres – oder in manchen Fällen sogar gravierenderes – Opfer heraus wie der ursprüngliche Verlust. Da zudem ein gewisses Maß an Unsicherheit im Hinblick auf den Erfolg besteht, ist von der Anwendung dieser Fähigkeiten abzuraten, und ihre Existenz muss vor der Menschheit bis in alle Ewigkeit verborgen gehalten werden, um Missbrauch zu verhindern.
    Das Licht ging aus. Hester blieb einen Moment lang still liegen und dachte nach. Wenn sie diesen Abschnitt richtig verstanden hatte, stand dort nichts anderes, als dass die Sirenen Tote wiedererwecken konnten. Aber was genau bedeutete die Wendung »passendes Material«? Und was »der Tausch«?
    Hester dachte an ihre Mutter, an ihre im Meer verstreute Asche, und spürte einen heftigen Druck auf der Brust. Für sie hatte es wohl kein »passendes Material« gegeben. Und dann dachte sie an Linnie, die darum betrogen worden war, erwachsen zu werden, und die sich auf ewig nach Liebe und Nähe sehnte und ihre Halbexistenz niemals würde begreifen können; deren Gebeine aber vielleicht noch in einer Kiste auf dem Burial Hill lagen. Wie würde Linnie wohl ihr weiteres Leben nutzen, wenn sie noch einmal die Chance dazu hätte? Ob ihre Knochen »passendes Material« waren?
    Hester schüttelte den Kopf. Diese Gedanken waren doch zu makaber! Sie sollte sich besser darauf konzentrieren, Linnie die Puppe zu bringen und ihrem Geist Frieden zu verschaffen!
    Im Dunkeln tastete sie nach ihrer Tasche und schob die Spielzeuglaterne und das Journal hinein. Sie schlug den Deckel darüber, verschloss ihn aber nicht. Dann krümmte sie sich und schob sich den Gurt über die Schulter. Ihre Beine waren mittlerweile eingeschlafen und kribbelten wie Tausende Ameisen. Sie holte tief Luft. In Gedanken ging sie noch mal alle Schritte durch und versuchte sich den reibungslosen Ablauf vorzustellen: die Truhe öffnen (ohne das Bild zu beschädigen), hinausklettern, den Deckel schließen, sich kurz recken und das Gleichgewicht wiederfinden, in den Hauptsaal der Dauernden Ausstellung laufen, den Bewegungsmelder im Blick halten (auf Alarm lauschen); schnell zur Kindheitsausstellung hinüber, den Glasdeckel der Vitrine anheben, die Puppe herausnehmen. Die Puppe in die Tasche stecken, Magnet-Verschlüsse zuschnappen lassen, durch die Fluchttür das Gebäude verlassen, hinter den Sträuchern an der Rückseite des Museums entlang (ohne zu laufen!) die Chilton Street erreichen. Davongehen (ganz selbstverständlich). Die Polizei kommt, aber du bist schon weg. Nach Hause gehen und etwas zu essen holen. Sich bis zur Dunkelheit versteckt halten.
    »Showtime«, stieß sie

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