System Neustart
das Gefühl hatte, Milgrim würde ihm folgen. Seine Hand in der Jackentasche ruhte auf seiner Kamera.
Jetzt trat Laubfrosch einen Schritt zur Seite, hinter eine in Neonfarben gekleidete Puppe. Milgrim wandte sich einer Vitrine in seiner Nähe zu, in der Modeschmuck ausgestellt war. Zu seiner Freude stellte er fest, dass er Laubfrosch im Spiegel des Verkäufers beobachten konnte.
Eine rothaarige junge Frau fragte ihn auf Französisch, ob sie ihm behilflich sein könne.
»Nein«, sagte Milgrim, »vielen Dank.« Im Spiegel sah er, dass Laubfrosch hinter der Schaufensterpuppe hervorkam. Milgrim drehte sich um, drückte den Knopf, mit dem das Objektiv der Kamera ausgefahren wurde, hob sie hoch und machte zwei Fotos von seinem Rücken. Die Rothaarige musterte ihn argwöhnisch. Er lächelte, steckte die Kamera ein und ging weiter.
23. Meredith
Vielleicht war es Milgrim, der hier Halluzinationen hatte, dachte sie, während sie ein weiteres Mal die skandinavische Treppe hinaufstieg, in den Händen zwei große Pappbecher Américain. Der Kaffee war dampfend heiß; falls Milgrims Stalker, den er sich möglicherweise nur einbildete, plötzlich auftauchen sollte, konnte sie ihm den Inhalt beider Becher entgegenschleudern.
Was auch immer das gewesen war, da unten in der verlassenen, blau erleuchteten Diskothek, wenn es denn überhaupt etwas gewesen war, kam ihr jetzt so vor wie ein zufälliges Standbild aus einem Film, in dem jemand anderes die Hauptrolle spielte: Milgrim oder Bigend, aber auf keinen Fall sie. Trotzdem hatte sie den Fahrstuhl gemieden, nur um sicherzugehen, und sie hielt weiterhin Ausschau nach entfernt nazimäßigen Feldmützen.
Milgrim hatte ganz offensichtlich Probleme. Genau genommen war er zutiefst merkwürdig. Sie kannte ihn kaum. Gut möglich, dass er sich Dinge einbildete. Jedenfalls machte er fast fortwährend diesen Eindruck.
Als sie das Obergeschoss des Salon du Vintage erreichte, vermied sie es, das vergrößerte Corbijn-Porträt anzuschauen. Außerdem gab sie sich alle Mühe, möglichst nicht an den Keller zu denken, und fragte sich stattdessen, seit wann es in Frankreich Kaffee zum Mitnehmen gab. Als sie zum ersten Mal hier gewesen war, hatte niemand im Gehen Kaffee getrunken. Entweder man saß in einem Café oder Restaurant, oder man stand an einer Bar oder an einem Bahnsteig und trank aus stabilen Gefäßen aus Porzellan oder Glas, die in Frankreich hergestellt waren. Hatte Starbucks die Pappbecher eingeführt? Sie bezweifelte es. Dafür war nicht genug Zeit gewesen. McDonald's wahrscheinlich.
Der Typ mit dem Pferdeschwanz, der museumsreife Jeans verkaufte, war mit einem Kunden beschäftigt - er zeigte ihm ein Paar steinalter Latzhosen, die mehr aus Löchern zu bestehen schienen denn aus Stoff. Dabei sah er aus, als wären rechts und links an seiner rahmenlosen, rechteckigen Brille noch zusätzliche Gläser befestigt. Er bemerkte sie nicht.
Ein Leichenzug kam ihr - an den aufblasbaren orangenen Möbeln vorbei - entgegen, und Olduvai George marschierte fröhlich lächelnd mit.
Vier Japaner in dunklen Anzügen und mit ernsten Gesichtern, zwischen sich einen schwarzen Leichensack.
Sie schritten an ihr vorbei, aber nicht George. Hocherfreut nahm er einen der Becher entgegen. »Vielen Dank!«
»Zucker?«
»Nein, danke.« Er schlürfte gierig.
»Wer war denn das?« Sie schaute sich um, während die vier Männer mit ihrer traurigen Last die Treppe hinunter verschwanden.
Er setzte den Becher ab und wischte sich mit seinem erstaunlich behaarten Handrücken über den Mund. »Die Handlanger von Meres Kunden. In der Tasche sind die Kostüme - allesamt. In Seidenpapier eingeschlagen. Und da ist auch Mere«, fügte er hinzu, »mit dem Käufer.«
Und zwei weiteren in Schwarz gekleideten Handlangern. Der Kunde, so dachte sie zuerst, war ein zwölf Jahre alter Junge und wie ein Kind in einem alten Comicstrip angezogen: enge Shorts, die nach Seide aussahen und ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichten; ein rotgrün gestreifter, langärmeliger Pullover, eine gelbe Mütze und gelbe Stiefel, die wie überdimensionale Kleinkinderschuhe aussahen. Er wirkte mürrisch, gereizt. Und dann bemerkte sie die leichten Bartstoppeln, die Hängebacken. Er unterhielt sich mit einer schlanken jungen Frau in Jeans und einem weißen Hemd.
»Designer«, sagte George nach einem weiteren Schluck. »Harajuku. Großartige Sammlung.« »Chanel?«
»Alles offenbar. Sieht so aus, als hätte Mere ein gutes Geschäft
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