System Neustart
es zumindest nicht bemerkt. Aber jetzt herrschte großes Gedränge, sie war müde und hatte gerade beschlossen, zum Bahnhof Odéon zu fahren und ins Hotel zu gehen, als Heidi anrief. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden, aber vielleicht hat mich auch jemand gefunden.«
»Soll heißen?«
»Milgrim glaubt, dass er hier jemanden gesehen hat, den er schon in London bemerkt hat. Im Selfridges, als du dir die Haare hast schneiden lassen.«
»Du hast ja gesagt, er wäre völlig meschugge.«
»Ich habe gesagt, dass er irgendwie unkonzentriert wirkte. Jedenfalls scheint er jetzt konzentrierter zu sein. Meschugge aber vielleicht auch.« Wenigstens war ihre Tasche nicht mehr so schwer, nachdem sie Milgrim das Buch gegeben hatte. Und ihren Laptop, fiel ihr da ein.
»Kümmern sich irgendwelche Leute von Bigend um euch?«
»Das wollte ich nicht. Ich hab ihm nicht gesagt, wo wir übernachten.«
»Wo übernachtet ihr denn?«
»Im Quartier Latin.« Sie zögerte. »Ein Hotel, in dem ich auch schon mit Garreth war.«
Für Heidi ein gefundenes Fressen. »Wirklich? Und wer hat das damals ausgesucht - Garreth oder du?«
»Er.« Sie erreichte den Bahnsteig, wo bereits großes Gedränge herrschte.
»Also schmachtest du ihm immer noch hinterher.« »Überhaupt nicht.«
»Darauf würd ich meinen haarigen Arsch verwetten.« »Du hast doch gar keinen.«
»Sei dir nicht so sicher«, sagte Heidi. »Ich war verheiratet.«
»Was soll das heißen?«
»Das geht nicht spurlos an einem vorbei.«
»Und was treibt Schwanzlurch?«
»Ist inzwischen auf Kaution draußen. Die Medien halten sich zurück. Die Betrugssumme liegt bei einer halben Milliarde. Bei der Stimmung zur Zeit ist es ihnen peinlich, über so was zu berichten. Portokasse. Wie mit ausländischen Serienkillern.«
»Was ist mit denen?« Der Zug fuhr ein.
»Amerika ist das Land der Serienkiller. Ausländische Serienkiller das ist wie japanischer Baseball.« »Wie geht es dir, Heidi?«
»Ich hab ein Fitnessstudio gefunden. In Hacky.« »Hackwfjy.«
Die Türen glitten auf; die Menschenmenge wogte vorwärts und trug Hollis mit sich.
»Ich dachte, da hätten sie das Stoffsäckchen erfunden.« Sie klang enttäuscht. »In etwa so wie in Silverlake. Aufgemotzt. Bisschen kreativ. Aber das Studio ist völlig old school. MMA.«
Die Türen schlossen sich hinter Hollis, und die Menge umarmte sie; es roch ein wenig aufdringlich, und sie spürte den Rollkoffer an ihrem Bein. »Was ist das?«
»Mixed Martial Ans«, sagte Heidi.
»Besser nicht«, riet ihr Hollis. »Denk an die Boxer!« Der Zug setzte sich in Bewegung. »Ich muss Schluss machen.« »Okay«, sagte Heidi, und weg war sie.
Nach sechs Minuten mit der Linie 10 befand sich Hollis wieder auf einem anderen Bahnsteig, Odéon, mit klackernden Rädern. Sie schob den Griff des Koffers zusammen, um ihn die Treppe hinaufzutragen hinauf ins schräg einfallende Sonnenlicht, wo ihr die Geräusche und Gerüche des Verkehrs entgegenschlugen. Das alles war ihr viel zu vertraut, als sei sie nie fortgewesen, und jetzt kam die Angst wieder an die Oberfläche, wie um Heidi Recht zu geben: Sie hatte sich selbst hereingelegt, um an den Schauplatz eines perfekten Verbrechens zurückzukehren. Die Leidenschaft wurde wie in einem Traum reaktiviert. Der Geruch seines Nackens. Seine Sammlung von Narben — Hieroglyphen, die darauf warteten, dass jemand sie nachzeichnete ...
Sie ließ den Griff des Koffers einrasten und zog ihn über das räderfressende Pflaster Richtung Hotel. Vorbei an der Bude des Süßigkeitenverkäufers. An dem Schaufenster mit den schrillen Kleidern. Satinpelerinen, Smogmasken mit Penisnasen. An der schicken kleinen Apotheke, die hydraulische Brustmassagegeräte und Hautseren aus der Schweiz feilbot, verpackt wie die allerneuesten Impfstoffe.
Ins Hotel, wo der Mann an der Rezeption sie erkannte, aber nicht begrüßte. Diskretion, und nicht etwa ein Mangel an Freundlichkeit. Sie meldete sich an, bestätigte, dass Milgrims Zimmer über ihre Karte abgerechnet wurde, und nahm den Schlüssel entgegen, der an einem schweren Messingmedaillon mit einem eingravierten Löwenkopf hing. Dann in den Fahrstuhl, der zwar noch kleiner war als der im Cabinet, aber moderner, wie eine bronzefarbene Telefonzelle. Fast vergessen das Gefühl, in einer Telefonzelle zu sein. Wie schnell alles verschwand ...
Im zweiten Stock waren die massiven Holzbalken freigelegt worden. Auf dem Flur stand der Wagen eines Zimmermädchens mit Handtüchern und
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