System Neustart
Nadelstreifen ging. Oder um Tee.
Er öffnete den bleistiftdünnen Laptop und fuhr ihn hoch.
Auf Hollis' Desktop befand sich eine digitale Darstellung des interstellaren Raums. Malvenfarbene galaktische Wolken. Interessierte sie sich für Astronomie, oder war das eine Standardeinstellung von Apple? Er stellte sich vor, der Laptop würde stattdessen ein Bild von sich selbst zeigen und von dem Teekännchen auf der weißen Tischplatte. Und auf diesem imaginären Schirm befand sich ein weiteres identisches Bild - ein immer kleiner werdender Tunnel im Escher-Stil, der bis auf die Größe weniger Pixel zusammenschrumpfte. Er dachte an die Kunst in Hollis' Buch und an das Neo, das inzwischen wahrscheinlich auf dem Weg in irgendein grauenhaftes Reichenviertel in der Vorstadt oder schon dort angekommen war - sein eigener bescheidener Versuch, so etwas wie GPS-Kunst zu schaffen.
Er stellte fest, dass er sich bei dem Gedanken an das, was er getan hatte, bemerkenswert ruhig fühlte. Das Wichtigste war anscheinend, dass er es überhaupt getan hatte. Nun war es vorbei. Dabei fiel ihm wieder Sleight ein.
Nachdem er mit dem Taxi von den Galeries Lafayette zu irgendeiner Kreuzung hier in der Nähe gefahren war, war er sich relativ sicher gewesen, dass er von Sleights Radar verschwunden war. Jetzt betrachtete er Hollis' Laptop und fragte sich, ob Sleight ihn womöglich auch frisiert hatte. Allerdings hatte Hollis gesagt, dass sie Bigends Auftrag gerade erst angenommen hatte.
Er öffnete den Browser und loggte sich bei seiner Webmail ein. Konnte Sleight ihm dabei zusehen? Seine Adresse, die erste und einzige E-Mail-Adresse, die er je besessen hatte, stammte von Blue Ant. Er rief Twitter auf. Wenn er es richtig verstanden hatte, konnte Sleight zwar herausfinden, welche Webseiten er aufgerufen, aber nicht, was er dort getan hatte. Er gab seinen User-Namen und sein Passwort ein.
Winnie war da. Oder da gewesen. »Wo sind Sie?« Vor einer Stunde.
»Immer noch in Paris. Müssen uns unterhalten.«
Er aktualisierte den Browser. Keine Antwort.
Die junge Frau in dem Baumwollkleid war mit dem Abstauben fertig und sah ihn an. Wie viele junge Leute erinnerte sie ihn an eine dieser recht realistisch gezeichneten japanischen Zeichentrickfiguren, die mit den überdimensionierten Augen. Was es damit wohl auf sich hatte? Zu solchen Dingen befragte er immer gerne Bigend. Dieser ermunterte ihn sogar dazu, weil er Milgrims Fragen nach eigener Aussage überaus schätzte. Milgrim war gerade aus einem zehn Jahre andauernden Dämmerzustand in die Wirklichkeit zurückgekehrt, und für Bigend glich er deshalb einem Astronauten, der aus einer verlorenen Raumkapsel stieg. Weichet Ton, der nur darauf wartete, dass das neue Jahrhundert seinen verräterischen Abdruck auf ihm hinterließ.
»Ist das ein Mac Air?«, fragte die junge Frau.
Milgrim musste erst einen Blick auf den Markennamen am unteren Rand des Bildschirms werfen. »Ja«, sagte er. »Der ist sehr hübsch.«
»Danke«, sagte Milgrim. Ein wenig verlegen drückte er den Stab mit der Kugel in dem Kännchen nach unten, worauf eine klare Flüssigkeit durch ein weißes, chirurgisch anmutendes Nylongewebe gedrückt wurde. Er goss etwas Tee in die noch zerbrechlicher wirkende Glastasse. Und nahm einen Schluck. Ein komplexer, metallischer Geschmack, der kaum an Tee erinnerte. Was eigentlich nichts Schlechtes war. »Haben Sie Croissants?«
»Non«, sagte die junge Frau, »petites madeleines. «
»Ja, bitte«, sagte Milgrim und deutete auf seinen weißen Tisch.
Proustsches Gebäck. Das war buchstäblich alles, was er über Proust wusste, obwohl ihm einmal jemand einen langen Vortrag darüber gehalten hatte, dass Proust die Madeleines entweder falsch beschrieben oder etwas vollkommen anderes gemeint hatte.
Es wurde Zeit für seine Medikamente. Während die junge Frau ihm vom anderen Ende des Ladens die Madeleines holte, nahm er die Pillenpackung aus der Tasche und drückte die Tagesration weißer Kapseln durch die Folie auf der Rückseite. Aus alter Gewohnheit hielt er sie in seiner Handfläche verborgen. Als die Frau mit drei Gebäckstücken auf einem viereckigen weißen Teller zurückkehrte, hatte er die Pillenpackung bereits wieder in die Tasche gesteckt. Eines der Gebäckstücke war ohne Guss, das zweite mit etwas Weißem bestäubt und das dritte mit dunkler Schokolade überzogen.
»Danke«, sagte er. Er tunkte die Madeleine ohne Guss kurz in seinen Tee, vielleicht aufgrund irgendeines vagen
Weitere Kostenlose Bücher