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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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diesem Moment auf der Treppe. Eschburg schloss langsam seine Hand, das Fruchtfleisch quoll zwischen seinen Fingern hervor, der Saft spritzte auf sein Hemd, auf seine Haare und in sein Gesicht.

23
    Die Tordurchfahrt vor Eschburgs Haus in der Linienstraße war fast dunkel, seit Wochen schon war eine der beiden Lampen ausgefallen. Trotzdem konnte Eschburg Senja Finks erkennen. Ein Fremder hielt ihre Kehle umklammert und drückte sie gegen die Hauswand. Der Mann war untersetzt, ausrasierter Nacken, Schiebermütze, breite Schultern. Er stach ein Messer in ihren Bauch, er war schnell. Eschburg rannte los.
    Der Fremde holte zum zweiten Mal aus. Eschburg bekam den Kragen seiner Lederjacke zu fassen und riss ihn zurück. Der Fremde strauchelte, er verlor das Gleichgewicht. Noch während er fiel, drehte sich Eschburg über ihn und schlug zu. Er legte sein ganzes Gewicht in den Schlag, er traf das Kinn des Fremden, der Kiefer splitterte.
    Eschburg hörte das Surren hinter seinem linken Ohr zu spät, er konnte nicht mehr ausweichen. Die Stahlkugel des Totschlägers klatschte gegen seinen Kopf. Er hatte Glück, der Winkel war flach, die Kugel zertrümmerte nicht den Schädelknochen. Eschburg fiel auf die Knie. Er sah die Pflastersteine, blau-grau, dazwischen Sand und Moos. Das Muster irritierte ihn kurz, dann schlug er mit der Stirn auf den Boden.
    Schon lange bevor er die Augen öffnete, wusste er, dass er in einem Krankenhaus lag. Es war der Geruch, die Mischung aus Desinfektionsmitteln, Krankheit und gekochter Bettwäsche.
    Das Erste, was er sah, war Sofia. Sie saß mit einem Buch am Fenster. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, ihre Füße lagen auf dem Fensterbrett. Ihr Hals war im Gegenlicht zu schmal.
    Eschburg wollte noch nicht sprechen, er sah ihr nur zu. Schließlich legte Sofia das Buch auf ihren Schoß und atmete laut aus.
    »Was ist passiert?«, fragte er. Sein Mund war trocken, die Lippen waren aufgerissen.
    Sofia kam zu ihm und küsste ihn vorsichtig auf die Stirn. »Du bist hingefallen und warst bewusstlos. Du hast ein Loch im Kopf.«
    Er versuchte sich zu bewegen, aber die Bettdecke war steif und schwer.
    »Du musst schlafen«, sagte sie. »Du hast Medikamente bekommen.«
    Eschburg spürte ihre Hand auf seiner Stirn, sie war kühl. Er schlief wieder ein.
    Als er das nächste Mal aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Er setzte sich im Bett auf und blieb so, bis er sicher war, dass ihm nicht schlecht wurde. Er trug noch den Krankenhauskittel, aber er war nicht mehr an den Tropf angeschlossen. Er stand auf und ging langsam ins Badezimmer. In seinem Urin war Blut. Er hatte einen Verband um den Kopf, die rechte Hälfte seines Gesichts war zerschrammt, über der rechten Augenbraue war ein Pflaster. Er setzte sich auf den Plastikhocker und putzte sich die Zähne. Es strengte ihn an.
    Als er zurück ins Zimmer kam, saß eine Frau an dem Tisch vor dem Fenster. Eschburg brauchte einen Moment, bis er Senja Finks erkannte. Sie trug einen dunklen Hosenanzug, eine Perlenkette und eine Hornbrille, ihre Haare waren offen. Der Anzug wirkte teuer.
    »Ich habe gewartet, bis Ihre Freundin gegangen ist«, sagte sie.
    »Sie sehen ganz anders aus«, sagte Eschburg.
    »Alle sehen nur das, was sie sehen wollen.«
    Eschburg setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. »Sind Sie nicht verletzt?«
    »Es geht«, sagte sie.
    »Wer waren die Männer?«
    »Die Sache ist erledigt«, sagte Senja Finks.
    »Was heißt das?«
    Sie zuckte mit den Schultern und schwieg. Eschburg legte sich flach auf das Bett. »Können Sie das Licht ausmachen? Es blendet«, sagte er.
    Senja Finks schaltete die Lampe aus. Sie fragte: »Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«
    »Nein«, sagte Eschburg.
    »Tun Sie es bitte nicht.«
    Sie öffnete das Fenster. Die Luft war frisch, sie roch nach Regen.
    Er drehte seinen Kopf zu ihr: »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
    Sie nahm Eschburgs Uhr vom Nachttisch. »Eine schöne Uhr. Sechzigerjahre?«, fragte sie.
    »Sie gehörte meinem Vater«, sagte er.
    Sie legte die Uhr wieder auf den Tisch.
    »Erklären Sie mir bitte, was passiert ist«, sagte Eschburg.
    »Es ist eine lange Geschichte. Sie wollen sie nicht wissen.«
    »Doch, natürlich«, sagte er.
    Sie sah ihn lange an. »Na gut«, sagte sie. »Das waren keine guten Männer, verstehen Sie? Diese Männer suchen sich Mädchen in den Dörfern in der Ukraine und versprechen ihnen ein schönes Leben. Dann richten sie die Mädchen zu Prostituierten ab, ›einreiten‹ nennen sie

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