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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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vor, schwer, ungeschickt.
    »Ich glaube, ich werde alt, Elly«, sagte er.
    »Du warst schon immer alt«, sagte Elly. Sie stellte die Dose wieder hin und wischte ihre Finger an einer Ecke seines Taschentuchs ab.
    »Es war doch auch besser, als die Telefone noch an Kabeln hingen«, sagte Biegler.
    »Was ist nun mit diesem Eschburg?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht. Der Mann ist wegen Mordes angeklagt. Er hat ein Geständnis abgelegt. Er sitzt in Untersuchungshaft und die Presse schreibt scheußliche Artikel über ihn. Aber das alles scheint ihm überhaupt nichts anhaben zu können. Die Polizisten sagen, er sei kalt. Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Er besitzt etwas, was ihn vor dem Gefängnis schützt.«
    »Was meinst du damit?«
    »Erinnerst du dich an den Nachbarn in unserer ersten Wohnung? Der alte Mann lebte ganz alleine. Ich habe ihn einmal besucht. Er saß in Anzug und Krawatte in seiner winzigen Küche. Er hatte den Tisch perfekt gedeckt: Tischtuch, Silberbesteck, Weinglas, Serviette. Er trug sogar Manschettenknöpfe. Jeden Tag saß er alleine so in der Küche, obwohl ihm niemand dabei zusah. Er machte das, weil er nicht verkommen wollte. Dieser alte Mann mit den Manschettenknöpfen war wie Eschburg. Es umgab ihn etwas Unberührbares.«
    »Du wirkst auch auf die meisten Menschen so«, sagte Elly nach einer Weile. »Als du ein junger Anwalt warst, hielten viele dich für einen Snob.«
    »Einen Snob?«
    »Ein wenig bist du es ja auch. An unserem ersten Abend sind wir ins Theater gegangen, obwohl du Theater nicht ausstehen kannst und keine Ahnung davon hast. Du wolltest mich nur beeindrucken. Mitten in dem Stück hast du geflüstert, Ödipus sei der erste Detektiv der Weltgeschichte – ein Mann ermittle gegen sich selbst, ohne es zu wissen. Dann hast du gesagt, das würden wir alle tun. Du warst dir völlig sicher. Das ist es vielleicht: Sicherheit . Mich hat das sehr angezogen.«
    »Wirklich?« Er lächelte sie an. Sie sieht immer noch aus wie ein Mädchen, dachte er.
    »Bilde dir bloß nichts ein, Biegler«, sagte sie.

6
    Am nächsten Morgen flogen Biegler und Sofia mit der ersten Maschine nach Salzburg. Biegler schimpfte über die engen Sitze, er sei doch kein Huhn, sagte er.
    Eine Frau auf Bieglers Nebensitz bestellte Currywurst, Fleischstücke schwammen in brauner Soße, 15   Minuten bei 150   Grad im Konvektomaten regeneriert. Die Stewardess legte ihre Hand auf Bieglers Schulter und fragte, ob er einen süßen oder einen salzigen Snack wolle. Biegler begann zu schimpfen. Der Kabinenchef kam, er sagte, er sei der »Purser« des Flugzeugs. Biegler erklärte ihm, der Begriff »Purser« stamme aus der »christlichen Seefahrt« und bedeute »Proviantmeister«, aber von Proviant könne in diesem Käfig überhaupt nicht die Rede sein.
    Sofia versuchte Biegler zu beruhigen. Biegler sagte, der Mann habe angefangen.
    »Warum sind Sie eigentlich Anwalt geworden, Herr Biegler?«, fragte sie.
    »Als Musiker tauge ich nichts«, sagte Biegler.
    »Kommen Sie schon, das ist keine Antwort.«
    »Die andere Antwort ist eine lange Geschichte, ich möchte Sie nicht langweilen.«
    »Tun Sie nicht«, sagte Sofia.
    »Na ja, am Ende ist es vielleicht doch nicht so kompliziert: Ich habe irgendwann begriffen, dass der Mensch nur sich selbst gehört. Nicht einem Gott, nicht einer Kirche, nicht einem Staat – nur sich selbst. Das ist seine Freiheit. Sie ist zerbrechlich, diese Freiheit, empfindlich und verwundbar. Nur das Recht kann sie schützen. Klinge ich jetzt zu pathetisch?«
    »Ein wenig«, sagte Sofia.
    »Ich glaube trotzdem daran.«
    »Und was werden Sie machen, wenn das hier vorbei ist?«, fragte Sofia.
    »Das nächste Mandat natürlich, wieso?«, sagte Biegler.
    »Haben Sie nicht irgendwann genug? Stören Sie die dauernden Angriffe der Presse nicht?«
    »Strafverteidigung ist kein Beliebtheitswettbewerb«, sagte Biegler.
    »Aber wollen Sie nicht mal etwas anderes tun? In die Politik gehen zum Beispiel? Das machen berühmte Anwälte doch manchmal.«
    »In die Politik?«
    »Ja, die weltbewegenden Fragen …«
    »… je weltbewegender eine Frage ist, desto weniger interessiert sie mich«, sagte Biegler.
    In Salzburg mieteten sie einen Wagen und kamen zweieinhalb Stunden später in dem Bergdorf an. Sie hielten auf dem Marktplatz vor dem Gasthaus »Goldener Hirsch«. Biegler klingelte. Als niemand öffnete, gingen sie um das Haus herum. Das Gartentor stand offen. Biegler sah einen Mann mit Pockennarben und

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