Tabu: Roman (German Edition)
geben.«
»Auch das haben meine Mitarbeiter nachgeprüft. Als letzter Eigentümer des Gebäudes in der Linienstraße war eine Kapitalgesellschaft in der Schweiz im Grundbuch eingetragen. Sie selbst haben das Haus von dieser Gesellschaft gekauft. Die Schweizer Gesellschaft wurde nach dem Verkauf aufgelöst. Der Treuhänder in Zürich hat keine Unterlagen mehr.«
»Senja Finks hat die Miete immer in bar in meinen Briefkasten gelegt. Es war ja nicht viel. Wir haben nie über Verträge geredet.«
Biegler stand auf und ging zum Fenster. Eschburg tat ihm leid, er brauchte Hilfe. »Sie müssen es begreifen: Es hat Senja Finks nie gegeben, die Wohnung stand leer.« Biegler sprach jetzt langsam. »Ich habe mit Ihrer Freundin Sofia telefoniert – auch sie hat diese Frau nie gesehen.«
Eschburg schüttelte den Kopf. Er sank in sich zusammen.
»Verteidigen Sie mich weiter?«, fragte Eschburg.
»Ich kann das Mandat so kurz vor der Hauptverhandlung nicht mehr niederlegen. Das Gericht würde mich als Pflichtverteidiger beiordnen. Aber Sie müssen mir jetzt etwas über Ihre Schwester sagen. Wenn die Staatsanwaltschaft schneller ist als wir, können wir den Prozess verlieren«, sagte Biegler.
»Ja«, sagte Eschburg nach einer Weile, »das werde ich.«
Nach dem Haftbesuch fuhr Biegler mit dem Taxi zu dem Restaurant, in dem er fast immer zu Mittag aß. Es wurde von Libanesen betrieben, die sich als Italiener ausgaben. Trotz des Rauchverbots in Gaststätten gab es ein Hinterzimmer mit Kamin, in dem man noch rauchen durfte. Biegler saß dort alleine, er hatte sich mit Sofia verabredet.
Er bestellte einen Teller Spaghetti. Dann rief er in seiner Kanzlei an und bat die Sekretärin darum, die Presseerklärung, die er gestern geschrieben hatte, an die Nachrichtenagenturen und Zeitungen zu verschicken. Er wusste, dass bald überall die Folterfrage diskutiert werden würde.
Natürlich, dachte er, kommen Folter, Bedrohung und Täuschung eines Beschuldigten viel häufiger vor, als sie vor Gericht verhandelt werden. Zu allen Zeiten gab es Polizisten, die glaubten, sie müssten so handeln. Biegler war Landau dankbar für ihren Vermerk. Ohne dieses Papier könnte er die Folter nicht beweisen: Kein Gericht glaubt einem Angeklagten, der so etwas behauptet. Er verstand trotzdem nicht, warum sie es überhaupt zugelassen hatte.
Als Sofia das Restaurant betrat, stand er auf und winkte durch den Raum. Sie sah aus, wie Eschburg sie beschrieben hatte. Die anderen Gäste drehten sich nach ihr um. »Sie passt hier nicht her«, dachte er.
Sofia bestellte nur einen Tee. Sie sprachen über Demonstrationen und Baustellen und die Touristen in der Stadt. Dann sagte Biegler so beiläufig wie möglich: »Haben Sie gewusst, dass die verschwundene Frau Eschburgs Halbschwester ist?«
»Was?« Sie schrie fast.
»Die DNA wurde untersucht. Es gibt keinen Zweifel«, sagte er.
»Ich habe noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt eine Schwester hat«, sagte Sofia. »Er hat mich immer von seiner Familie ferngehalten.« Erst jetzt zog sie ihren Mantel aus und ließ ihn hinter sich über die Lehne ihres Stuhls fallen. »Was bedeutet das für den Prozess?«, fragte sie.
»Es ist auch verboten, seine Schwester umzubringen«, sagte Biegler und aß weiter.
Sofia schüttelte den Kopf. Biegler sah auf.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Es bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft weiter ermittelt. Sie werden versuchen herauszubekommen, wer die Frau ist. Oder war.«
»Glauben Sie mir bitte, Sebastian ist kein Mörder.«
»Das sagen alle Freundinnen und die meisten Ehefrauen«, sagte Biegler.
»Haben Sie mal beobachtet, wie er Menschen begrüßt? Er streckt immer den Arm durch, um sie von sich wegzuhalten. Er kann niemanden anfassen«, sagte Sofia.
»Na ja«, sagte Biegler. Er überlegte, ob er noch einen Nachtisch nehmen sollte, obwohl Elly es verboten hatte.
»Ich glaube es einfach nicht«, sagte Sofia.
»Mit dem Glauben ist es so eine Sache. Ich hatte mal einen Mandanten, der seine Wohnung sechs Jahre lang nicht verlassen konnte. Er hatte Angst vor Menschen, auch er konnte niemanden anfassen. Aber er hatte eine Frau durch das Internet kennengelernt. Irgendwie hat er es geschafft, mit ihr ein Kind zu zeugen. Dann wurde er immer merkwürdiger. Er konnte nichts Rotes und Grünes mehr essen und er glaubte, die Parfümindustrie würde ihn verfolgen. Er sprach stundenlang mit Menschen, die nicht da waren und ernährte sich ausschließlich von Haferflocken.
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