Tabu: Roman (German Edition)
darauf?«, fragte die Frau. Sie sah die beiden an. »Nein, nach Schottland ist sie gegangen. Sebastian bezahlt ihr den Aufenthalt in einem Internat dort, es heißt Gordonstoun. Sie will später Kunstgeschichte studieren«, sagte sie.
»Was?« Biegler und Sofia sagten es gleichzeitig.
»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?«, fragte Biegler.
»Gestern«, sagte die Frau.
»Sie lebt also?«, fragte Sofia.
»Natürlich lebt sie.« Die Frau saß aufrecht am Tisch und starrte Sofia und Biegler an. »Ist ihr was passiert? Sie fragen so komisch.«
»Nein«, sagte Biegler. »Ihr ist nichts passiert.«
»Sagen Sie mir bitte, können Sie mir vielleicht erklären, was das mit der Kunst bedeuten soll? Meine Tochter weigert sich nämlich«, fragte die Frau.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Biegler. Er hob die Schultern und stand auf. »Es tut mir leid, dass wir das alles fragen mussten«, sagte er. Dann ging er in den Garten.
7
Biegler und Sofia übernachteten in den beiden Gästezimmern des Wirtshauses. Biegler schlief schlecht. Er wachte zweimal auf, ohne zu wissen, wo er war. Um fünf Uhr stand er auf. Er wollte lesen, aber das einzige Buch war eine Bibel in der Schublade des Nachtkastens.
Er zog sich an und ging hinaus auf den Marktplatz. Er hatte nur einen dünnen Mantel mitgenommen. Überall war Nebel, er sah kaum etwas. Er durchquerte das Dorf, kehrte um, aber er fand den »Goldenen Hirschen« nicht mehr. Alle Häuser schienen gleich auszusehen. Er wollte einen Zigarillo rauchen, aber sein Feuerzeug versagte. Er hörte einen Traktor, die Scheinwerfer blendeten erst im letzten Moment auf. Biegler musste zur Seite springen. Der Bauer fluchte und zeigte ihm den Vogel. Dann hörte er ein Baby schreien, das gequält wurde. Er rannte in Richtung der Schreie, stolperte über eine Türschwelle, rutschte aus und schlug hart mit der Schulter gegen eine Häuserwand. Es war eine Katze. Sie saß auf einem Fenstersims und fauchte ihn an. Biegler fluchte. Er hatte kalten Schweiß auf der Stirn, die Schulter tat ihm weh.
Endlich fand er den Eingang des Gasthauses. Innen war noch immer alles dunkel. Bis um sieben saß er in seinem Mantel auf dem Bett, ohne zu wissen, was er tun sollte. Dann hörte er Sofia auf dem Flur.
Sie tranken in der Gaststube einen Kaffee. Biegler sagte der Wirtin, dass sie noch in das Jagdhaus der Eschburgs wollten. Früher habe der Schlüssel dort unter einem Stein auf der Treppe gelegen, sagte sie, aber sie sei seit der Geburt ihrer Tochter nicht mehr in dem Haus gewesen. Biegler wollte bezahlen, aber die Wirtin lehnte es ab.
Sofia und Biegler fuhren mit dem Wagen einen schmalen Feldweg zum Jagdhaus hoch.
»Wer ist das verschwundene Mädchen auf dem Foto?«, fragte Biegler. »Wer hat bei der Polizei angerufen?«
»Sebastians Vater muss noch ein Kind gezeugt haben«, sagte Sofia.
»Glauben Sie das wirklich?«
»Nein«, sagte Sofia.
»Ich auch nicht«, sagte Biegler. »Wir sind keinen Schritt weiter.«
»Und wenn Sie Mutter und Tochter zu Gericht laden?«
»Dann würde ihr Blut untersucht werden. Wenn die DNA mit den Blutspuren in unserem Verfahren übereinstimmt, wäre es vermutlich ein Freispruch, obwohl alles andere noch unklar ist.«
»Und wenn nicht?«, fragte Sofia.
»Dann stehen wir wieder vor dem gleichen Problem. Zur Not mache ich es, ich lade beide. Aber es gefällt mir nicht. Bei Gericht stellt man keine Fragen, deren Antwort man nicht kennt«, sagte Biegler.
Es hatte zu regnen begonnen. Sie fanden den Schlüssel unter einem Stein auf der Eingangsstufe. Die Tür klemmte. Im Haus war der Strom abgestellt, die Fensterläden waren verschlossen. Biegler stolperte über einen Stuhl im Eingang. Er fand den Griff eines Fensters und öffnete es. Der Schieber für die Läden war rostig, Biegler schnitt sich in die Hand. Er wickelte sein Taschentuch um die Wunde. Nach und nach gingen sie durch die Räume und öffneten alle Fenster.
»Es ist furchtbar«, sagte Sofia.
Eschburgs Vater hatte sie direkt auf die Wände gezeichnet, es mussten Hunderttausende sein, das ganze Jagdhaus war mit ihnen ausgemalt: Auf jede Wand, auf die Decken, die Stühle, die Tische und auf die Schränke waren Kreuze gezeichnet – sie waren winzig, schwarz, zwei Striche mit dünner Kohle. Es musste Wochen gedauert haben.
Nachdem sie alles gesehen hatten, gingen sie hinaus vor die Tür. Sie setzten sich auf die Holzbank unter das Dach. Lange Zeit hörten sie zu, wie der Regen auf das Dach
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