Tabu: Thriller
Weil seine Stimme versagte.
Er lief rastlos durch die Wohnung. Von der Arbeit rief niemand an. Er trank ein Glas Wasser nach dem anderen. Seine Hände wollten nicht aufhören zu zittern.
Jetzt hatte es ihn also aus der Kurve geschleudert. Er war rückfällig geworden. Hatte sich volllaufen lassen. Nenn das Kind beim Namen, Gunnar!, dachte er. Du bist ein Alkoholiker. Warst immer einer und wirst immer einer bleiben. Aber er war wieder auf den Beinen und funktionierte wieder! Schließlich hatte er den restlichen Cognac weggegossen und den lieben langen Tag nichts anderes als Wasser getrunken.
Du bist ein Idiot, Gunnar! Aber du wirst es schaffen! Du bist entgleist, aber du wirst schon wieder auf die Spur kommen!
Trotzdem sah er ein, dass er ein Säufer war und bleiben würde.
Das Kettenglied
I
Ein Kettenglied.
Das Erste, was ich auf den Bildern erkennen konnte, war eine Kette aus kalten Eisenringen. Die Kette warf einen dunklen Schatten auf die gipsweiße Wand. Eine innere Stimme – ich kann es nach wie vor nicht besser beschreiben – warnte mich, dass etwas Schreckliches bevorstand. Meine Zunge gab einen schnalzenden Laut von sich, und obwohl ich vorbereitet war, schnappte ich nach Luft, als ich die Hand sah.
Die Frau lag auf einer Matratze in einem ansonsten leeren Raum, an die Wand gekettet wie ein wildes Tier, und in ihrem viel zu großen Nachthemd sah sie aus wie eine Teilnehmerin an einem unwirklichen Kostümball. Ich glaube, ich schluchzte auf, als die Frau kopfschüttelnd in die Kamera schaute. Geschockt und verwirrt blickte ich auf den Brief in meiner Hand.
Was hatte er geschrieben? Ich las die letzten Zeilen noch einmal:
Und das Wasser, das du aus dem Strom genommen hast, wird zu Blut werden auf der Erde.
Die Walze blockierte, als Kristin das Blatt aus der Schreibmaschine zog. Die alte Remington war der reinste Klapperkasten; die Os und Ms verkeilten sich jedes Mal, wenn sie nicht fest genug auf die Tasten hämmerte, und die Leertaste drohte jeden Augenblick abzufallen. Aber sie liebte diese Maschine. Sie hatte ihre ersten Erzählungen darauf geschrieben, im Alter von neun oder zehn Jahren, wenn sie sich an verregneten Sommertagen gelangweilt hatte.
Sie legte das Blatt auf einen Stapel neben der Schreibmaschine und lehnte sich im Stuhl zurück. Im Fensterrahmen surrten träge ein paar Fliegen. Durch die verschmierten Scheiben sah sie die Schafe auf dem Grashang weiden. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen. Die gegenüberliegende Talseite verfärbte sich allmählich gelb, die Luft wurde eine Ahnung kühler, der Morgennebel dichter.
Mit einem Unheil verkündenden Scheppern und Rasseln der Zahnräder und Federn kündigte die alte Standuhr an, dass es sieben oder vielleicht auch acht Uhr war. Sie sah auf ihre Armbanduhr – zehn vor zwölf – und lächelte wehmütig über die alte Uhr; ein standhafter Soldat, der sich zu sterben weigerte. Die spröden, mehrstimmigen Schläge zu jeder vollen und halben Stunde waren ihr seit Kindertagen vertraut. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, die Uhr werde sie noch in den Wahnsinn treiben. Beim Großvater war es wie ein Reflex, bei jedem Läuten zog er die Taschenuhr heraus, um die Zeit zu vergleichen.
Mit beiden Händen steckte sie ein leeres DIN-A4-Blatt unter die Walze und zog es ein.
Anfangs wollte ich auf keinen Fall eine Reportage über die Frau auf der Matratze machen. In mir sträubte sich alles.
Ich wusste instinktiv, dass dies die größte Story war, die mir als Journalistin je untergekommen war, aber trotzdem war es mir zuwider. Erst im Nachhinein ist mir klar, wieso: Ich wollte nichts mit dem Schicksal der Frauen zu tun haben.
Sie seufzte unzufrieden. Die Formulierungen waren holperig, farblos. Egal. Der Verlagslektor hatte ihr geraten, sich alles von der Seele zu schreiben. Um den Feinschliff konnte sie sich hinterher kümmern.
2
Später am Tag machte sie einen ausgiebigen Waldspaziergang, an dem Moor vorbei bis zu dem Berg, in dem, wie ihre Ururgroßeltern glaubten, die Unterirdischen lebten. Sie badete nackt in einem eiskalten Kolk, rieb ihren Körper mit Moosbüscheln ab und legte sich zum Trocknen auf einen von der Sonne aufgeheizten Felsen.
Sie dachte an Gunnar. Sie machte sich Sorgen um ihn. Als sie ihn am Vormittag endlich erreicht hatte, hatte sie seiner Stimme angehört, dass es ihm dreckig ging. Gunnar war ein offenes Buch für sie. Hinter der vorgeschobenen Aggressivität schämte er sich wie ein kleines Kind. Sie hatte
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