Tabu: Thriller
mir ein Geheimnis anvertraut. Und ich sah keinen Grund, an etwas zu rühren, das… das ihr Andenken besudelt hätte. Außerdem wusste ich ja nicht einmal, wer ihr Freund war. Ich hätte auch nicht weiterhelfen können! Verstehen Sie?«
Die letzte Frage klang fast wie ein Flehen.
Er nahm ihre Hand in seine. Sie war kalt und knochig.
»Probieren Sie trotzdem, sich zu erinnern«, sagte er. »Hat sie nie etwas über ihn erzählt? Über sein Aussehen? Seinen Namen? Irgendetwas?«
»Sie tat sehr geheimnisvoll. Aber sie sagte, dass er gut aussähe. Und dass sie nie… Sie wissen schon…«
Er sah sie fragend an.
»Sie hatten nie… klar?«
»Ich verstehe nicht ganz…«
Sie räusperte sich und senkte die Stimme. »Sie wissen schon. Miteinander geschlafen.« Sie kicherte verlegen wie ein junges Mädchen.
»Ach so.«
»Nicht richtig, jedenfalls.« Sie verschränkte die Finger ineinander.
»Hat sie gesagt, wieso sie nicht…?«
Sie blickte zu Boden. »Sicher nicht, weil Linda nicht wollte. In der Hinsicht war sie ziemlich draufgängerisch. Was Jungs betraf. Sie wissen schon…«
»Sie waren mir eine große Hilfe, Ann-Reidun. Super! Erinnern Sie sich sonst noch an etwas?«
»Ich weiß nicht. Eine Kleinigkeit, vielleicht. Falls es überhaupt von Bedeutung ist. Als Linda und Rune zusammen nach Ammerud gezogen sind, hat sie gesagt, dass sie jetzt viel häufiger Besuch bekommen könnte. Von ihrem Freund. Ich ging davon aus, dass er wohl in der Nähe wohnte. Oder nicht allzu weit weg, klar?«
»Fabelhaft! Aber Sie wissen nicht, wo? Etwas genauer?«
Sie schüttelte den Kopf. Er konnte die Kopfhaut unter ihrem schütteren Haar erkennen. Er nahm noch einmal ihre Hand, und als er sie leicht drückte, verzog sich ihr Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Er ließ sie sofort los.
»Es tat gut, mit jemandem darüber zu sprechen«, sagte sie leise. »Wirklich! Das bedrückt mich schon lange. All die Jahre. Wissen Sie, es tat gut, es auszusprechen.«
Vierter Teil
Der letzte Tag
19 Uhr 05
Jøkulfoss Camping & Hytteland wurde nie der große Erfolg, den sich die lokalen Investoren und die Gemeinde erhofft hatten.
Die Anlage lag prachtvoll an einem schwach geneigten Hang oberhalb der breiten Stromschnellen unweit des Wasserfalls. Einen Steinwurf nördlich des Gemeindezentrums begann der Langvatnsee, der sich bis Skarbu und zu den Lyngskjervhöhen hinzog.
Schon im letzten Jahrhundert kamen Touristen aus der ganzen Welt, um den majestätischen Wasserfall zu bewundern. Aber Jøkulfoss Camping & Hytteland wurde trotzdem kein Touristenmagnet. Die Ausländer reisten in Wohnmobilen mit mitgebrachten Lebensmittelvorräten an, und die norwegischen Touristen parkten wie früher oben in der Gemeinde und gingen mit Thermoskanne und Proviant hinunter zum Wasserfall, ehe sie ein paar Stunden später weiterfuhren. Die Rafter, die laut Freizeitberatungsunternehmen nur so auf die Anlage strömen würden, fanden die Stromschnelle nicht attraktiv genug und blieben aus, und die wenigen, die sich eine Hütte mieteten, begnügten sich mit einer Nacht.
Jøkulfoss Camping & Hytteland wurde 1986 erbaut, ging 1988 Konkurs, wurde 1989 von privater Hand übernommen, ging 1991 erneut pleite und wurde nun von einer halb kommunalen Gesellschaft betrieben, die immer mehr Geld in den Betrieb pumpte.
Leif Bryn musterte das Auto, das sich dem Kiosk näherte.
Als er die Geschäftsführung des Campingplatzes übernommen hatte, war er sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass er von nun an jeden gottverdammten Tag in dem Schuppen hocken würde, der als Rezeption und Kiosk diente, und auf Touristen wartete. Er hatte gedacht, ein »Geschäftsführer« sei jemand, der herumlief und darauf achtete, dass alle anderen ihre Arbeit taten, und ganz sicher niemand, der alles selber erledigen musste. In Wahrheit war er nichts anderes als ein unterbezahlter Platzwart und Pförtner. Er verwaltete über zwanzig Campinghütten, ein Gelände mit Platz für fünfzig Wohnwagen und einen Zeltplatz, auf dem nie ein Zelt stand. Und er langweilte sich.
Das Auto, ein alter Lieferwagen, hielt vor dem Schuppen. Ein Mann und eine Frau saßen darin. Der Mann stieg aus. Leif schob das Fenster auf und beugte sich über den Tresen.
»Guten Abend«, sagte der Mann höflich. Etwas zu höflich, so redeten die Snobs aus der Stadt mit den Leuten vom Land, wenn sie vorzugeben versuchten, sich selbst auf einer Stufe mit der örtlichen Bevölkerung zu sehen.
»’n Abend«, antwortete er.
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