Tabu: Thriller
dünner Stimme.
»Angst vor mir?«
»Ja.«
Er zögert. »Niemand hat dich als vermisst gemeldet.«
»Ach…«
»Das wundert mich, ehrlich gesagt.«
»Meine Vermieter sind verreist. Meine Eltern leben in Dänemark. Der Gemeindepfarrer ist im Urlaub. Die anderen Mitarbeiter in der Kirche kümmern sich nicht darum, was ich mache oder wann ich übe. Ich muss erst Samstag wieder spielen. Bei einer Hochzeit.« Sie holt hicksend Luft. Als hätte sie zu viel gesagt. So viel hat sie noch nie zu ihm gesagt.
»Verstehe.«
Sie sieht ihn an, versucht, in seinem Blick zu lesen. Samstag… Wird sie am Samstag noch am Leben sein? Oder wird sie tot sein, erdrosselt, erstochen, erschossen? Und draußen im Garten verscharrt?
Oder wird sie immer noch auf dieser Matratze liegen, an die Wand gekettet, nächsten Samstag und den Samstag drauf und …
Er zieht den Stuhl vor die Matratze.
»Erzähl mir was von dir«, fordert er sie auf.
»Von – mir? Wie meinen Sie das?«
»Ich will wissen, wer du bist. In dir drin.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen…«
»Was denkst du? Was fühlst du? Ich will alles über dich wissen. Alles!«
»Ich glaube nicht…«
»Erzähl!«
Und sie erzählt.
… zu Blut werden auf der Erde
1
Kristin hatte den Brief und die Videokassette längst vergessen, als sie den zweiten Umschlag bekam.
Es war ein verregneter Donnerstag; ein Schmuddelwettertag, der Lust auf heiße Schokolade und Toastbrot in ihr weckte. Die Wolkendecke hing tief über den Bergen um die Stadt. Es hatte fast die ganze Nacht gewittert und gegen Morgen wie aus Kübeln geschüttet, aber im Laufe des Vormittags hatte das Unwetter eine Pause eingelegt, als müsse es nach den Verwüstungen der Nacht erst einmal neue Kräfte sammeln.
Der Umschlag lag in ihrem Postfach, als sie atemlos von der Aerobic-Stunde kam. Es war die gleiche Art Umschlag wie beim letzten Mal. Groß, braungelb, gepolstert. Ihr Name in großen roten Lettern.
Sie stand da und starrte auf den Umschlag, während sie überlegte, wieso ihr Herz so verflucht hämmerte.
Dieses Mal las sie zuerst den Brief:
Wenn sie aber diese zwei Zeichen nicht glauben und nicht auf dich hören werden, so nimm Wasser aus dem Strom und gieße es auf der Erde aus, dann wird das Wasser, das du aus dem Strom genommen hast, zu Blut werden auf der Erde.
Die sechs letzten Worte waren in Rot geschrieben. Billige Effekthascherei, dachte Kristin. Und schüttelte sich.
Sie schleuderte die Tasche unter ihren Schreibtisch und hängte die Jacke auf. Drüben am Layout-Tisch saß Skaug, in einen Stapel Faxe vertieft. Sie nahm den Brief und die Kassette und ging zu ihm.
»Du… Ich habe wieder einen Brief bekommen«, sagte sie leise.
Skaug blickte verwirrt auf. »Was?«
»Einen Brief! Ich habe wieder einen Brief bekommen!«
»Einen Brief? Wie schön für dich, Kristin. Wirklich! Ich meine das ganz aufrichtig, wirklich schön für dich! Ein Brief! Du meine Güte!«
»Mach dich nicht lustig!« Sie hielt ihm den Umschlag unter die Nase. »So einen Brief.«
»So einen Brief?« Er überflog das Blatt, legte die Stirn in Falten, las ihn ein zweites Mal. »Was soll das? Will dich jemand bekehren?«
»Ich glaube nicht.«
»Die neue Werbekampagne der Blutbank?«
»Skaug, das ist nicht komisch!«
» Sorry, sorry! Also was soll das Ganze?«
»Eine neue Kassette war auch dabei.«
»Kassette?«
»Erinnerst du dich nicht an die merkwürdige Videokassette, die ich am Montag gekriegt habe? Jetzt ist die zweite gekommen.«
»Aha?«
»Ich habe sie mir… noch nicht angesehen.« Fast hätte sie gesagt: Ich trau mich nicht, sie alleine anzusehen, ohne sagen zu können, was ihr so unheimlich war.
»Dann lass uns mal einen Blick reinwerfen«, sagte Skaug und rieb sich summend die Hände. »Vielleicht ist es ja ein saftiger Porno. Mit zwei Stortingsabgeordneten!« Er zwinkerte Kristin grinsend zu, riss sich dann aber zusammen. »Ooooops! Sorry, junge Frau, bad taste, sorry !«
Das erste Bild ist eine Nahaufnahme; nicht einzuordnen, bis der Fotograf wegzoomt und Kristin begreift, dass es sich um den Schatten einer Kette handelt. Die Kette ist in der Wand verankert. Die Kamera wandert ganz nah an den Kettengliedern entlang, bis… Kristin schnappt nach Luft… zu einer Hand.
»Oh, verdammt«, murmelt Skaug.
Die nächste Einstellung ist eine Totale. Ein kahler Raum. Auf einer Matratze liegt eine Frau. Sie trägt ein weißes Nachthemd. Mit einer Hand ist sie an die Wand gekettet.
»Herrgott im
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