Tabu: Thriller
Sekretärin dicht auf den Fersen. O Gott, wie furchtbar!, würden sie schreien. Er läge über dem Schreibtisch, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme seitlich herabhängend. Einen Krankenwagen, schnell!, würde die Pfadfinderin rufen. Dann täte es dir hoffentlich leid, Herdis!
Normalerweise ließ er seine untergeordneten Mitarbeiter die Verhöre mit Verdächtigen führen, ohne sich einzumischen. Um ehrlich zu sein, waren sie besser als er, auf alle Fälle geduldiger, als er es jemals gewesen war. Aber dieses Verhör wollte er gerne selber führen. Vielleicht, weil er seinerzeit der leitende Ermittler in dem Mordfall gewesen war und ihn jetzt zum Abschluss bringen wollte. Vielleicht aber auch, weil ihm sein Unterbewusstsein riet, sich in den nächsten Wochen mit Arbeit einzudecken. Damit er keine Zeit hatte, an Herdis zu denken.
Aber er dachte an Herdis.
Sie hatten in der Küche gestanden. Gestern Abend. Er hatte erzählt, dass sie jetzt endlich einen Verdächtigen in dem alten Mordfall hätten, den die Zeitungen mit ihrem üblichen Einfühlungsvermögen »den Homomord« getauft hatten. »Wie schön«, hatte sie gemurmelt. Er hatte ihrer Stimme angehört, dass etwas nicht stimmte. Nach zwanzig Jahren Ehe spürte er schnell, in welcher Stimmung sie war. Aber diese Stimmung verwirrte ihn. Mit hektischer Nervosität räumte er die Geschirrspülmaschine aus. Sie hat mich nicht angesehen, dachte er. Doch dann hatte sie sich zu ihm umgedreht, die Hände an der Schürze abgetrocknet, tief Luft geholt und gesagt: »Runar, wir müssen reden. Ich glaube, ich brauche ein bisschen Zeit für mich selbst.«
Zeit für mich selbst .
Die Details des anschließenden Gesprächs waren verschwommen. Er hatte sich alle Mühe geben müssen, unberührt zu wirken. Er erinnerte sich, dass er sich an der Spüle abgestützt hatte, während sie redete.
Sie hätte lange darüber nachgedacht, beteuerte sie, und nach den ersten Worten war ein Schwall von Vorwürfen und Rechtfertigungen über ihre Lippen gekommen.
Wie in einem Traum hatte er einen Schritt aus seinem Körper heraus gemacht – Das hier passiert nicht wirklich! -, und als er wieder in ihn zurückkehrte, fühlte sich dieser kalt und fremd an.
Ich verstehe das nicht, hatte er immer und immer wieder gesagt und geklungen wie ein bettelndes Kleinkind.
Vielleicht ist das genau das Problem, hatte sie gesagt. Sie war nicht wiederzuerkennen gewesen.
Sie war noch am gleichen Abend abgefahren. Er wusste nicht, wohin. Sie wurde von einem alten VW-Bus mit einem Friedenssymbol auf der Seite abgeholt. Mit einer Menge junger Leute darin, vom Fenster aus sah er, dass sie klatschten, als sie einstieg.
Acht nach zehn. Er atmete tief ein. Sie warteten bestimmt auf ihn.
2
»Scheiße, Mann, ich hab ihn nicht alle gemacht!«
Er sah aus wie ein nasser Lappen auf einem Stuhl, als hätten sie ihm das Rückgrat mit einer Kneifzange gezogen, dachte Vang und musste an eine Qualle mit Armen und Beinen denken, aber ohne Hirn.
Er lächelte nicht, dabei kam ihm dieser absurde Gedanke unsäglich komisch vor. Um den Schein zu wahren, sah er Polizeiwachtmeisterin Anne-Beth Carlsen an. Die Pfadfinderin. Er fragte sich, wieso er sie so nannte. Wegen ihres Sunnmørre-Dialekts? Der schmächtigen Statur? Den kurzen, lockigen Haaren?
Sie erwiderte seinen Blick, aber es ließ sich unmöglich etwas daraus ablesen.
»Aber Sie waren an diesem Abend bei ihm zu Hause, das stimmt doch?«, fragte Vang auf gut Glück.
»Was’n, bei dem? Bei so’ner Schwuchtel? Ich hab kein’ kaltgemacht, verdammt…«
Er war jung, das Gesicht voller Narben und Flecken. Sein Wortschatz war ziemlich begrenzt. Jedes Mal, wenn Vang ihm in die Augen sah, begann sein Blick zu flackern. Sein Atem ging schwer, und er kratzte sich manisch an einer undefinierbaren Tätowierung auf dem linken Handrücken. Ein Kreuz? Ein Dolch?
Vang lehnte sich im Stuhl zurück und ließ die Stille auf sich wirken.
Sie hatten einen Tipp bekommen. Der Fall lag acht Jahre zurück, und obgleich er in regelmäßigen Abständen die Akten immer wieder hervorgeholt hatte, gab es nur wenig Hoffnung, ihn nach so langer Zeit zu lösen. Aber jetzt hatte ein Journalist von »Augenzeugen« bei TV2 die Mutter des homosexuellen Mannes interviewt, der damals mit fünfundvierzig Messerstichen ermordet worden war. Mit verweinten Augen hatte die alte Frau in die Kamera gesehen und den Mörder aufgefordert, sich zu stellen. Am gleichen Abend hatte ein Mann bei der
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