Tabu: Thriller
einen Mann geküsst. Nun, dann weiß ich wenigstens, wann ich meine Tage kriege …
Im Schrank unter dem Waschbecken fand sie hinter den Frotteetüchern eine neue Seife, packte sie aus und legte sie auf die Seifenschale der Dusche.
Erst als sie den Gürtel ihres Rockes löste, fiel ihr der Brief wieder ein, den sie am Vormittag in ihre Rocktasche gesteckt hatte. Jeezes, Kristin, kriegst du jetzt schon Alzheimer? Sie wühlte in der Tasche herum, zog den Zettel hervor und faltete ihn auseinander.
Zwei Zeilen. Keine Unterschrift.
Blockschrift. Kleine, knotige Buchstaben. Mit so viel Kraft geschrieben, als hätte der Schreiber versucht, sie in die Unterlage unter dem Papier zu ritzen:
Wenn sie dir nun nicht glauben und nicht auf dich hören werden bei dem einen Zeichen, so werden sie dir doch glauben bei dem andern Zeichen.
Una
Am schlimmsten schmerzt das Handgelenk. Wenn sie auf der Seite liegt, den Arm nach hinten gestreckt, spannt sich die Kette bei jeder Bewegung. Da, wo die Handschellen reiben, ist die Haut blutig aufgescheuert, und beide Arme sind geschwollen und leicht blaugrün. Das Blut pocht in ihren Fingerspitzen.
Die Matratze ist hart, ihr fehlt ein Kissen. Sie traut sich nicht, danach zu fragen. Wenn er den Raum betritt, um ihr etwas zu essen zu bringen oder sie zu filmen, macht sie sich unsichtbar. Bis jetzt hat er sie nicht angerührt.
Bis jetzt.
Er hat ihr einen Topf gebracht, den er wortlos abholt, wenn sie ihn benutzt hat.
Neben der Matratze, kurz über dem Boden, ist ein Klingelknopf. Sie hat noch nie darauf gedrückt. Wahrscheinlich ist er dort, damit sie ihn rufen kann, wenn sie etwas von ihm will.
Sie will nichts von ihm.
Er hat ihr die Uhr abgenommen. Minuten und Stunden fließen sinnentleert ineinander. Sie schläft viel. Und betet.
Sie war nie sonderlich religiös. Mit zehn hat sie aufgehört, vorm Schlafengehen zu beten. Organistin ist sie geworden, weil es so unendlich viel schöne Musik auf der Welt gibt und weil der Klang einer Kirchenorgel ihr die Tränen in die Augen treibt.
Dennoch haben ihr Studium, die Kirchenlieder, die sonntäglichen Gottesdienste und der Umgang mit den anderen Mitgliedern der Kirchengemeinde ihren alten Kinderglauben in ihr geweckt. Seit einigen Jahren betet sie abends wieder vorm Schlafengehen.
Noch hat er sie nicht angerührt. Aber das wird er. Sie weiß, dass er es tun wird.
Sie stellt sich den Schmerz vor, den Ekel, die Erniedrigung. Sie will an etwas anderes denken, aber die Bilder kommen immer wieder: sein Gesicht, dicht über ihrem, schweißnass. Die stechend blauen Augen. Seine Lippen. Die Zunge. Sein Glied, das sie innerlich zerreißt; ein Spieß aus glühendem Eisen, der in sie stößt, bis sie nur noch eine verkohlte Höhle aus Hautfetzen und Fleischfasern und Demütigung ist.
Sie hasst ihn.
Früher hatte sie aufrichtig behaupten können, sie wäre niemals in der Lage, einen Menschen zu hassen. Sie war überzeugt davon, dass nur Liebe in ihr war.
Das war ein Irrtum.
Sie hasst ihn.
Hasst hasst hasst.
Sie weiß nicht, wann Tag oder Nacht ist. Es spielt keine Rolle. Sie schläft eine Stunde oder zwei, ist eine Weile wach, so vergeht die Zeit.
Sie geht alle Orgelwerke durch, die sie je eingeübt hat. Das ist eine gute Therapie. Sie sieht die Manuale vor sich, die Stufen mit den gelbweißen und schwarzen Tasten; spürt den leichten Widerstand unter den Fingern, den federnden Gegendruck des Pedals unter den Füßen. Sie hört, wie das Rauschen der Orgelpfeifen den Kirchenraum erfüllt, wie der Bass die Holzbänke zum Vibrieren bringt, wie manche Akkorde fast in den Ohren wehtun.
Oft weint sie. Dann dreht sie sich vom Spiegel weg. Sie ist fast sicher, dass er dahinter steht und sie beobachtet. Sie will nicht, dass er ihr Gesicht sieht, wenn sie weint.
* »Du bist so süß, wenn du schläfst«, sagt er.
Sie schlägt die Augen auf. Er steht breitbeinig über der Matratze. In der Hand die Videokamera.
Jetzt ist es so weit!
»Ich habe dich gefilmt«, sagt er. »Beim Schlafen.«
Sie sagt nichts.
Leise: »Du bist etwas Besonderes, weißt du das?«
Das weiß sie nicht.
»Nummer fünf«, sagt er. »Meine Glückszahl. Die Zahl fünf ist die Nabe jedes Zyklus, wusstest du das?«
Das wusste sie nicht.
»Hast du keinen Hunger?«, fragt er. »Du isst ja fast nichts.«
»Ich bin nicht sonderlich hungrig.«
»Hast du Angst?«
Die Frage weckt in ihr das Bedürfnis zu weinen. Aber sie reißt sich zusammen. »Ja«, sagt sie mit
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