Tabu: Thriller
Himmel«, wispert Kristin. »Das ist die gleiche Frau.«
»Die gleiche Frau?«
»Wie auf dem ersten Video!«
Auf den ersten Blick sieht die Frau tot aus. Sie liegt mit halb geschlossenen Augen und offenem Mund da. Dann dreht sie den Kopf ein Stück zur Seite und sieht in die Kamera. Ihr Blick ist träge, gleichgültig. Wie unter Drogen.
Skaug pfeift. »Ich glaube«, sagt er und legt Kristin einen Arm um die Schulter, »ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns über eine Gehaltserhöhung unterhalten.«
2
Der Nachrichtenredakteur Richard Wolter faltete die Hände über seinem Bauch und legte die Füße auf die Schreibtischplatte. So pflegte er sich einzurichten, wenn er über komplizierte Zusammenhänge nachdenken musste. Lässig schüttelte er sein schulterlanges Haar. Er war zweiundfünfzig, sah aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Schlank und muskulös. Mehrere Jahre hatte er eine umstrittene, aber sehr populäre Diskussionssendung beim NRK-Radio geleitet. In Pressekreisen munkelte man deshalb, er hätte seine Seele verkauft, als Kanal 24 ihn abwarb, um ein abgespecktes Nachrichtenformat zu entwickeln.
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Wolter nachdenklich. Er war als Zwanzigjähriger von Steinkjer nach Oslo gezogen, und ihm hing nach wie vor der Hauch des Dialektes an. »Entweder erlaubt sich jemand einen schlechten Scherz mit uns, oder ein Kidnapper hat aus unerfindlichen Gründen uns als Adressaten für Aufnahmen seines Opfers auserkoren.«
»Ein Kidnapper?«, fragte Kristin.
»Was sonst? Freiwillig wird sie ja wohl kaum dort liegen, oder?«
»Wartet mal zwei Sekunden«, mischte sich Skaug ein. Er suchte nach seiner Schachtel Prince, fand sie in der Brusttasche und angelte eine Zigarette heraus. »Soweit ich weiß, wurde niemand als vermisst gemeldet. Wenn er beabsichtigt, uns zu benutzen, um an Lösegeld zu kommen, müsste irgendjemand das Verschwinden der Frau bemerkt haben!« Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen.
»Möglich«, sagte Wolter. »Aber es könnte auch sein, dass die Entführung geheim gehalten werden soll.«
»Und warum schickt er dann dieses Video an mich?«, fragte Kristin.
»Um ins Fernsehen zu kommen, natürlich.«
»Aber wieso ausgerechnet an mich? Warum hat er es nicht an dich geschickt? Oder ganz allgemein an den Sender?«
Der Gedanke war Wolter offenbar auch schon gekommen. Er blickte an die Decke, ehe er ihr ein Lächeln zuwarf, das wohl beruhigend gemeint war. »Schwer zu sagen, Kristin. Entspann dich. Vielleicht mag er dich ja?«
»Vielleicht mag er mich ja?«
Skaug und Wolter räusperten sich.
»Also – was passiert jetzt mit den Aufnahmen?«, fragte Skaug aufs Geratewohl, nahm einen Lungenzug von der unangezündeten Zigarette und stieß den Scheinrauch durch die Nasenlöcher aus.
Keiner sagte etwas.
Was passiert mit den Aufnahmen?, dachte Kristin. Dann platzte sie heraus: »Also wirklich! Ihr habt doch nicht vor, sie zu senden?«
»Warum nicht?«, fragte Wolter mit seinem Welpenblick.
Kristin suchte nach Argumenten. Weil sie nicht wussten, wer die Frau war. Weil das Ganze womöglich ein schlechter Scherz war. Weil die Bilder möglicherweise tatsächlich eine Frau in Gefangenschaft zeigten. Weil es sich falsch anfühlte. Aber keiner dieser Gedanken ließ sich in eine einfache Antwort umformulieren, also sagte sie: »Seid ihr verrückt, wir können das nicht senden!«
»Warum nicht?«, wiederholte Wolter. »Egal, wie, das ist eine Wahnsinnsstory!«
Die Osloer Journalisten nannten ihn den Geier.
Als »24 Stunden!« vor einem Jahr eine Aufnahme von einem Mann gebracht hatte, der vom Dach des SAS-Hotels sprang, nachdem er eine Frau und ihren kleinen Sohn erschossen hatte, schrieb ein Medienkritiker von der Akersgate, Richard Wolter wäre bereit, Leichen zu filmen, um mit den Einschaltquoten der Dagsrevy und den TV2-Nachrichten mitzuhalten. Selbst Kristin, die eher eine puritanische Einstellung zum Journalismus hatte, hielt diese Verurteilung für ungerecht und heuchlerisch. Am folgenden Tag hatten die Zeitungen ebenfalls ausführliche Bildserien des Selbstmordes gebracht. Wolter akzeptierte nicht, dass TV-Journalisten eine andere Denkweise haben oder dass sie nach anderen ethischen Grundsätzen arbeiten sollten als ihre Kollegen bei der Zeitung. Er hielt diesen Ansatz für antiquiert und überholt, für ein Relikt aus den Zeiten, als NRK noch ein staatliches Monopolunternehmen war. Die Zuschauer waren gewarnt worden, ehe der Bericht
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