Tabu: Thriller
gesendet wurde, und schließlich gab es die Möglichkeit, aus- oder umzuschalten. Dennoch vertraten einige immer noch die Meinung, das Fernsehen sollte nicht mit den Tageszeitungen konkurrieren, da die Ausstrahlung von Bildern eine größere Verantwortung mit sich brachte. Wolter war anderer Meinung. Er selbst hatte das Motto von »24 Stunden!« formuliert: »Reality-TV«. In einer Fernsehdebatte über Fernsehethik, die nach der Selbstmordreportage ausgestrahlt worden war, hatte Wolter festgestellt, dass keiner der empörten Diskussionsteilnehmer auch nur mit einem Wort erwähnte, dass der Mann, bevor er sprang, kaltblütig eine Frau und ihren Sohn ermordet hatte oder dass halb Oslo abgesperrt war, während der Mörder unter den Augen Tausender Menschen auf dem Dach herumkletterte. Stattdessen waren alle ganz besorgt um das Wohl des Halbbruders und zweier Tanten des Mörders, die die Aufnahme von dem Selbstmord zehn Stunden vor dem Erscheinen der Zeitungen im Fernsehen sahen. »Die Wirklichkeit ist manchmal schrecklich«, hatte Wolter in den brodelnden Saal gerufen. »Aber wenn die Menschen die Wirklichkeit im Fernsehen nicht ertragen, sollen sie die Nachrichten eben ausschalten. Es ist immerhin die Wirklichkeit, die wir vermitteln!«
»Richard«, sagte Kristin, »das gibt nur wieder Ärger!«
»So?«
Kristin musste lächeln. Sie kannte niemanden, den die Meinung anderer so unberührt ließ wie Wolter.
»Wir wissen nichts über diese Aufnahmen!«, fuhr sie fort. »Vielleicht will uns jemand verführen, sie zu zeigen!«
Wolter hob die Augenbrauen. Sein Blick fragte: Verführen?
»Damit sie zum Dagbladet laufen und erzählen können, wie leicht einem ›24 Stunden!‹ auf den Leim geht.«
»Guter Hinweis!«
»Jungs und Mädels«, sagte Skaug und schob die Zigarette mithilfe der Zunge von einem Mundwinkel in den anderen, »nur nicht paranoid werden! Wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sich die Frau tatsächlich in den Klauen eines verdammten Psychopathen befindet.«
»Herrjemine!«, platzte Kristin heraus.
Wolter und Skaug sahen sie an.
»Trotzdem verstehe ich nicht, wieso er mir die Aufnahme schickt«, wiederholte sie.
Weder Wolter noch Skaug gaben ihr eine Antwort. Vielleicht haben sie mich nicht verstanden, dachte sie.
Wolter sah Skaug an. »Menschenskind, zündest du die Zigarette auch noch mal irgendwann an?«
Skaug schüttelte den Kopf. »Ich versuche aufzuhören.«
Wolter lachte trocken und trommelte sich mit den Händen auf den Bauch. »Also gut. Höchste Zeit für ein kleines Pläuschchen mit Polizeipräsident Bastian.« Er grinste. » Du? Und aufhören? «
Eine schwierige Angelegenheit
1
Herdis war weg.
Polizeidirektor Runar Vang lehnte die Stirn gegen das kühle Glas des Bürofensters und blickte benommen über die Hausdächer. Er hatte das Gefühl, im Körper eines fremden Mannes zu stecken. In seinem Hinterkopf summte ein Chet-Baker-Song, den er nicht zuordnen konnte. Die Welt draußen war irgendwie weit entfernt, außerhalb seines Fokus, nicht wirklich. Er konnte es nicht genau benennen. Es war mehr ein Gefühl.
Das Licht war matt und warm. Träge Sommerwolken schoben sich über Bjørvika hinweg. Eine Möwe segelte im Gegenwind, zuckte mit den Flügeln und stürzte sich in halsbrecherischem Sturzflug ins Wasser. Das macht sie aus purer Lust, dachte er verdutzt. Als wäre ihm zum ersten Mal in vierundfünfzig Jahren klar geworden, dass Vögel etwas nur aus reinem Vergnügen tun konnten. Zum zigsten Mal explodierte das Bild von Herdis vor seinem inneren Auge, und da fiel ihm plötzlich ein, welche Melodie ihm die ganze Zeit im Kopf herumschwirrte. »She Was Too Good To Me.« Er lachte abgehackt. Sah auf die Uhr. Fünf nach zehn. Er war ein pünktlicher Mensch. Sie machten sich hinter seinem Rücken darüber lustig. »Oberlehrer« nannten sie ihn, wenn sie glaubten, dass er sie nicht hörte. Bloß, weil er verlangte, dass man sich an Zeiten hielt.
Das Verhör hätte vor fünf Minuten beginnen sollen. Polizeiwachtmeisterin Anne-Beth Carlsen – die junge, energische Polizistin, bei der er immer an eine Pfadfinderin denken musste – nahm wahrscheinlich an, er sei tot umgefallen oder so etwas. Hirnblutung. Herzinfarkt. Vermutlich standen Anne-Beth und die Sekretärin in diesem Augenblick vor seiner Tür und überlegten, ob sie es wagen sollten, sich dem grauenvollen Anblick zu stellen.
Er sah vor sich, wie sie hereinstürmten. Die Pfadfinderin zuerst, die
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