Tabu: Thriller
auf dem Pfad.
11 Uhr 33
Er hatte Kristin. Er hatte ihren Bruder umgebracht und sie gekidnappt.
Runar Vang schämte sich. Er hatte nichts begriffen. All die merkwürdigen Dinge, die sie am Telefon gesagt hatte, waren versteckte Signale gewesen. Mit denen sie ihm klarmachen wollte, dass sie in Gefahr schwebte.
Und er hatte nichts begriffen.
Er rief sich ins Gedächtnis, was genau sie gesagt hatte. Was es bedeuten könnte.
Ich kann es noch mal probieren. Jetzt, wo ich es weiß.
Er wählte ihre Nummer. Aber dieses Mal antwortete sie nicht. Das Telefon klingelte und klingelte.
Der Redakteur vom Dagbladet hatte gesagt, Kristin Bye wäre in Jøkullfoss in der Telemark gesehen worden. Solange ihr Handy eingeschaltet war, bestünde eine Chance, das nachzuprüfen. Håvard Alm war bereits dabei, eine richterliche Verfügung zu besorgen, dass Kristin Byes GSM-Handy geortet werden konnte. Das war eine reine Formsache, aber Netcom GSM bestanden grundsätzlich auf einer richterlichen Verfügung, bevor sie Informationen an die Polizei weitergaben. Solange das Handy eingeschaltet war, gingen in regelmäßigen Abständen Funksignale an die nächste Basisstation. Darüber konnte man ein Handy bis auf wenige hundert Meter Abweichung in der Stadt und ein paar Kilometer auf dem Land orten.
Vang lehnte sich im Stuhl zurück. Er saß mit den anderen Ermittlungsleitern im Hufeisen. Alle Blicke waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er hatte die Verantwortung. Er war derjenige, der für Ordnung sorgen musste.
»Wir können davon ausgehen, dass sie noch in der Telemark sind«, sagte er mit vor Müdigkeit schleppender Stimme.
»Wieso?«, fragte Antonsen gereizt.
»Weil sie dort gesehen wurden!«
»Willst du damit sagen, dass wir aufgrund eines Tipps an das Dagbladet eine Aktion starten?«
»Das ist alles, was wir haben. Und«, fügte er hinzu, »alles, was Gunnar Borg uns bisher mitzuteilen hatte, hat sich als zutreffend erwiesen.«
»Trotzdem…«
»Wir trommeln die Delta-Truppe in Fornebu zusammen! Und hoffen, dass wir eine Bestätigung von GSM bekommen, bevor wir aufbrechen.«
»Fornebu?«, sagte Gran.
»Antonsen, kannst du einen Helikopter requirieren, der die Truppe dorthin bringen kann?«
»Einen Helikopter? Das dauert normalerweise, bis wir…«
»Einen Helikopter! Einen großen! Entweder von der Luftwaffe oder vom Rettungsdienst! Richte ihnen einen Gruß von mir aus und sag, es ginge um einen S.E.F.!«
»Okay!«
»S.E.F.?«, fragte Gran. »Was ist denn das für ein Code?«
»Scheiß eiliger Fall!«
12 Uhr 35
Wenn er im Technikraum des Kinos steht, in dem er arbeitet, und durch die schmalen Sehschlitze in den Kinosaal guckt, stellt er sich vor, wie sich die Zuschauer in den Film einleben. Auf der Leinwand entsteht eine neue Wirklichkeit. Im Dunkel des Kinosaals löst deine Identität sich auf. Die Atmosphäre auf der Leinwand belegt deine Sinne und infiziert dein Gehirn. Du vergisst, wer du bist, wo du bist. Du denkst Töte ihn! Töte ihn! Töte ihn! , bis dein Mund sich mit einem metallischen Blutgeschmack füllt. Angst erfüllt dich, Begehren. Erst, wenn das Licht im Saal angeht, kehrst du in die Wirklichkeit zurück. Aber es dauert eine Weile, bis du ganz wieder du selbst bist. Du meidest die Blicke der anderen Leute im Kinosaal. Beschämt ziehst du den Mantel fester um dich, in dem Gedränge durch den neongrünen Betondarm, der auf die Straße mündet.
Früher, als er in diesem Job noch neu und das Kino noch anständig und kein cinematografischer Supermarkt mit mickrigen Sälen war, kaum noch größer als ein Wohnzimmer, hatte er das Licht im Maschinenraum gelöscht und sich durch die kleine Luke vor dem Projektor den Film angesehen, wenigstens die ersten Minuten. Aber es war nicht das Gleiche, wie im Saal zu sitzen.
Der Brief war vor einigen Wochen gekommen. Obwohl er ihn nur einmal gelesen hatte, konnte er ihn auswendig. Aufgrund der Notwendigkeit betrieblicher Einschränkungen sehen wir uns leider gezwungen… Große Einnahmeverluste im ersten Halbjahr … Tätigkeit rationalisieren… Die Konkurrenz auf dem Videomarkt und die stetig wachsende Senderzahl im Fernsehen zwingt uns leider… Wir möchten die Gelegenheit nutzen, uns für eine lange und treue Zusammenarbeit …
Als ihm bewusst wird, dass er vor ihr steht und ihr in die Augen sieht, wendet er hastig den Blick ab.
»Frierst du?«, fragt er. Um irgendetwas zu sagen.
»Ja«, erwidert sie. Obwohl ihr eigentlich warm ist.
»Wollen wir
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