Tabu: Thriller
Krümel im Augenwinkel, mitten auf einem Titelblatt wiederzufinden.
Sie trank ihren Morgenkaffee gemeinsam mit Wolter und Skaug. Gegenseitig versuchten sie, sich davon zu überzeugen, dass Anita Fjordvik auch ermordet worden wäre, wenn sie die Bilder ausgestrahlt hätten, aber ihre Argumente waren halbherzig. Wolter räumte ein, sich von der öffentlichen Meinung unter Druck gesetzt zu fühlen, von den Medien und den Behörden. Er sagte, er sei feige geworden. Hätte er es gewagt, auf sein Herz zu hören und die ersten Bilder von Anita zu zeigen, wäre sie vielleicht noch am Leben.
»Bullshit«, widersprach Skaug. »Der Täter konnte sie so oder so nicht am Leben lassen. Sie hätte ihn identifiziert. Sie war vom ersten Augenblick an zum Tode verurteilt.«
Kristin war seiner Meinung. Schließlich musste auch Wolter eingestehen, dass sie vermutlich recht hatten. Skaug knallte entschieden die Faust auf den Tisch.
Und trotzdem dachten alle: Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn wir getan hätten, was er von uns verlangt hat …
4
Die Panik entstand nicht plötzlich, wie man es hätte erwarten können. Sie kam langsam, wie eine schleichende Lähmung. Als würde eine Frau nach der anderen von Furcht gepackt: Mein Gott, ich könnte ja die Nächste sein !
In der ersten Zeit verzeichnete die Taxizentrale mehr weibliche Fahrgäste. Dann entwickelte sich ein Phänomen, welches das Dagbladet als »Mädchenkette« bezeichnete. Zwei oder mehrere Mädchen oder junge Frauen gingen gemeinsam, Arm in Arm, nach Hause. Ein Witzbold machte ein kleines Vermögen durch T-Shirts mit der Aufschrift »Lass mich leben – ich bin nicht fotogen!«. Einige Wohnviertel und Wohnungsbauvereine richteten auf ehrenamtlicher Basis eine Art Bürgerwehr ein, und ein paar ganz Eifrige verfassten einen Aufruf, in dem sie mehr Polizeipräsenz auf den Straßen forderten. Dieser Aufruf wurde natürlich gleich von den rechtspopulistischen Parteien aufgegriffen, die in der aktuellen Stunde im Parlament den Justizminister bedrängten, weil der Täter noch immer nicht gefasst war.
Alle redeten davon. In den Kantinen und Büros, draußen auf der Straße, auf den Schulhöfen und am Telefon – immer ging es nur um Aquarius: Wer ist er? Wer wird sein nächstes Opfer sein?
Die Schlüsseldienste hatten wochenlange Wartelisten, und der Notruf der Polizei wurde von hysterischen Menschen blockiert, die draußen vor ihrem Haus geheimnisvolle Männer herumlungern sahen. In den Kneipen und Biergärten waren nach Mitternacht nur noch Männer zu sehen, und als die Männer bemerkten, dass sie allein waren, gingen auch sie nach Hause. Ein junger Liebhaber, der mitten in der Nacht nach einem heimlichen Stelldichein durch das Fenster seiner Liebsten wieder nach draußen kletterte, wurde von der Bürgerwehr des Viertels beinahe gelyncht. Ein amerikanischer Tourist, der im Vigelandspark einige Mädchen oben ohne mit seiner Videokamera aufnahm, wurde von zwei Passanten angegriffen und festgehalten, bis die Polizei kam. In einigen Fotoläden wollten die Verkäufer sogar den Ausweis sehen, wenn »verdächtige Männer« Videokassetten kauften. Ein religiöser Fanatiker, der auf der Straße eine flammende Predigt dafür hielt, dass die Unmoral mit Tod und ewiger Pein zu bestrafen sei, wurde überwältigt und an eine Fußstreife im Zentrum übergeben.
5
Anitas Beerdigung in der kleinen Sørlandskirche wurde alles andere als die private Zeremonie, die sich ihre Eltern erbeten hatten.
In der ganzen Gemeinde wehten die Flaggen auf Halbmast. Jeder nahm Anteil. Das Lokalradio spielte Trauermusik, und entlang der Route von Anitas Elternhaus zur Kirche hatten Fremde Blumensträuße an die Laternenpfähle gehängt.
Die Menschen kamen von überallher. Nicht aus Neugier oder Aufdringlichkeit, sondern um ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme zu bekunden. Schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn der Trauerfeier war die Kirche überfüllt.
Aus Rücksicht auf die Angehörigen hatte die Polizei die Presse auf eine Anhöhe in gehörigem Abstand zur Kirche verbannt, jedoch nah genug, dass die Fotografen ihre Übersichtsfotos machen konnten. Im Inneren der Kirche hatten nur ein Pressefotograf und ein Fernsehkameramann die Erlaubnis von Pastor und Familie erhalten, von der Galerie aus Bilder zu machen, unter der Auflage, die Fotos und Filmstreifen auch der übrigen Presse zur Verfügung zu stellen.
Der Sarg wurde von Anitas Vater, ihren zwei Brüdern und drei Onkeln aus der Kirche
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