Tabu: Thriller
gehen können, weil die Sonne auch morgen wieder aufgehen wird.«
»Um ihr Licht auf neue Kriege, neue Morde, neue Tragödien zu werfen…«
»…die nur ein winziger Teil von dem sind, was wir senden.« Er verdrehte die Augen. »Mein Gott, du hörst dich an wie der Moderator eines christlichen Senders. Die Zuschauer zucken doch mit den Schultern, gießen sich Sahne in den Kaffee und kommentieren jede neue Tragödie, die über den Bildschirm flimmert mit einem lapidaren ›So was aber auch, wirklich‹, um dann ein Schlückchen Kaffee zu trinken. Schließlich betrifft es sie ja nicht wirklich. Dich nicht und mich auch nicht. Nur die anderen.«
Kristin ließ den Cognac in ihrem Becher rotieren und atmete tief ein. »Ich glaube, sie kümmern sich.« Sie nahm einen kleinen Schluck. »Aber sie können sich nicht aufraffen, sich zu engagieren.«
Wolter saß da und dachte eine Weile über ihre Worte nach, ehe er antwortete: »Wie viele sind es denn, die anrufen und sich beklagen, wenn wir blutige Bilder von irgendeinem Krieg gezeigt haben? Zehn? Zwanzig?«
»Also ungefähr so viele wie bei einem Leseraufschrei der VG ?«
»Genau! Aber weißt du, was sie vergessen, all die, die bei sich zu Hause kein Blut auf der Mattscheibe sehen wollen? Sie vergessen, dass es diese Bilder sind, die die Welt aufwecken. Die Fernsehbilder, die sie verändern!«
Wolter stand auf und trat ans Fenster. Eine Weile blieb er stehen und sah nach draußen.
»Meinst du, die ›Dagsrevyen‹ hätte das Video gezeigt?«, fragte Kristin.
Er schnitt eine schelmische Grimasse. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich weiß es nicht. In irgendeiner Form hätten sie es vermutlich getan. Sie hätten das sicher mit Gott weiß was kaschiert, aber zu guter Letzt hätten sie sich bestimmt entschieden wie wir und die Bilder genutzt. Nicht den eigentlichen Mord. Aber den haben wir ja auch nicht gezeigt. Ich tippe, sie hätten die Bilder auf einem Monitorausschnitt im Hintergrund gezeigt und im Vordergrund ein Interview mit einem Polizisten oder einem Psychiater geführt. Ich bin sicher, dann hätte es keinen Aufruhr gegeben. Die Medien hätten diese Gewichtung akzeptiert. Weil es ›Dagsrevyen‹ ist. Nicht notwendigerweise, weil ihre Reportage so viel seriöser als unsere gewesen wäre, sondern weil die ›Dagsrevyen‹ einfach die Messlatte ist.«
»Und wir?«
»Wir, Kristin, sind der rüpelhafte neue Junge in der Klasse. Der, den niemand willkommen heißen will, den aber alle ein bisschen spannend finden.«
Sie war müde und erschöpft, als sie mit einem Taxi in ihre leere, dunkle Wohnung fuhr. Drinnen ließ sie sich aufs Sofa fallen, schaltete MTV ein und schlief mit ihren Kleidern ein.
3
Früh am nächsten Morgen wurde sie von einem Kollegen der »Dagsrevyen« geweckt, der ihr sagte, dass sie sie gerne als Gast in ihrer Samstagssendung hätten.
Großer Gott, dachte sie, werde ich jetzt noch zu einem Promi?
Auf dem Weg zur Arbeit spürte sie, dass sie von einigen Leuten angestarrt wurde. Es gefiel ihr nicht. Als sie an einem Kiosk vorbeiging, sah sie, dass sowohl VG als auch das Dagbladet große Porträtbilder von ihr auf der Titelseite hatten.
Auch das gefiel ihr nicht.
In der Redaktion wartete ein ganzer Stapel von Interview-Anfragen von Lokalradios und Magazinen. Eines warb sogar damit, sie mit einem Reporterteam auf eine Gratisreise in die Karibik einzuladen, natürlich mit einer Begleitperson ihrer Wahl. Ein anderes Wochenblatt wollte sie als Gast in seiner neuen Serie »Vor dem Kamin«. Erstaunlich, dass sie nicht auch noch eine Anfrage von einem Männermagazin bekam, ob sie bereit sei, für fünfzigtausend Kronen ihre Kleider abzulegen.
Es war merkwürdig, diejenige zu sein, hinter der alle her waren. Jahrelang hatte sie selbst zu den Jägern gezählt, war eine der zahllosen Reporterinnen gewesen, die die Spitzenpolitiker, Wirtschaftsbosse, Promis und Sportidole anrief, um ein Statement zu bekommen, eine Meinung, einen exklusiven Kommentar. Sie hatte nie recht begriffen, warum die Promis oft so abweisend waren, so resigniert und müde. Inzwischen verstand sie es etwas besser. Schließlich bekamen sie nicht bloß einen Anruf, sondern hundert. Das Telefon klingelte unablässig. Nicht nur ein Journalist stand bei ihnen auf der Türschwelle, sondern fünfzig. Es war nicht angenehm, mehr oder weniger freiwillig in eine Kameralinse zu blicken – etwas ganz anderes aber war es, sein Gesicht, komplett mit allen Falten und einem
Weitere Kostenlose Bücher