Tabu: Thriller
morgens. Der Mörder hatte den Briefumschlag spätestens kurz vor Mitternacht in den Eilbriefkasten an der Hauptpost geworfen. Die Polizei suchte nach Zeugen. Irgendjemand musste doch etwas gesehen haben. Am Rathaus. An der Post. Aber niemand meldete sich.
2
Es war wie ein nicht enden wollendes Déjà-vu-Erlebnis.
Dieses Mal kamen die Journalisten lange vor der Nachrichtensendung. Viele von ihnen hatten angerufen und nachgefragt, ob »24 Stunden!« eine Kassette bekommen habe. Wolter versuchte, Zeit zu gewinnen, bevor er das bestätigte, doch da war schon die ganze Horde unten in der Rezeption.
Erneut improvisierten sie eine Pressekonferenz im Sitzungszimmer.
Wieder bekamen sie die gleichen Fragen gestellt.
Wieder musste Kristin für die Fotografen posieren.
Anschließend ging Kristin mit Richard Wolter in dessen Büro. Er schloss die Tür, öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und nahm eine Flasche Martell heraus.
»Ausschließlich für Notfälle«, sagte er trocken und goss den Cognac in zwei Plastikbecher.
Sie prosteten sich zu.
»Was glaubst du, werden sie schreiben?«, fragte sie.
Wolter starrte vor sich in die Luft. »Sie werden nicht so kritisch sein wie beim letzten Mal. Die Luft ist raus. Außerdem können sie uns dieses Mal keinen Vorwurf machen. Wir haben uns gefügt. Sicher werden sie noch einmal daran erinnern, wie unseriös und wenig vertrauenswürdig wir sind. Aber dieses Mal werden sie die Tür wohl einen Spaltbreit offen lassen. Damit wir später doch wieder ins Warme kommen können.«
»Du bist so zynisch.« Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und die zwei Schlucke Cognac begannen in ihrem Kopf zu kribbeln.
»Ich bin nicht zynisch, Kristin. Ich bin Realist. Denk dran, ich kenne dieses Spiel. Denn genau das ist es. Ein verdammtes Spiel!« Er hielt inne. »Du hast recht. Ich bin zynisch.«
Kristin sagte nichts. Sie sog das Aroma des Cognacs ein und spürte den Duft entlang der Nervenbahnen durch ihr Hirn strömen.
»Ein Spiel!«, fuhr Wolter fort. »Ein Kampf um Auflagen, um Methoden, um Exklusivität. Kuriositäten. Human Touch Stories. Darum, der Erste zu sein. Die ersten Bilder zu haben. Das Thema des Tages zu bestimmen. Ein verdammtes Spiel, wirklich!«
»Na dann, Prost!«
Er nippte an seinem Cognac und lächelte entwaffnend. »Ich sage nicht, dass wir nicht auch seriös sind. Dass wir mit dem, was wir tun, nicht auch etwas bewirken wollen.«
»Halleluja!«
»Und ich sage nicht, dass wir nicht auch an all dem interessiert sind, was wirklich wichtig ist. Aber es ist trotzdem ein verdammtes Spiel.«
Sie stießen noch einmal an.
»Wir sind alle ein Teil davon«, fuhr er nachdenklich fort. »Das ist die Natur des Journalismus.«
»Auf jeden Fall in der Akersgate…«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, da irrst du dich. Du und alle anderen. Es geht nicht nur um VG und Dagbladet . Oder die TV-NACHRICHTEN. Es geht ebenso um Aftenposten und Dagsnytt . Um Nordlys und Fædrelandsvennen . Um die kleinen Lokalzeitungen. Und die ›Dagsrevyen‹. Sie alle stürzen sich auf das Nachrichtenkarussell, und zum Schluss dreht es sich so schnell, dass sich keiner mehr abzuspringen traut.«
»Sag mal, bist du betrunken, oder was ist los?«
Er starrte in seinen Cognac und sah sie dann an. »Nicht betrunken, Kristin. Bloß ein bisschen desillusioniert.« Er öffnete und schloss beide Hände, als versuchte er, etwas zu greifen. »Verdammt noch mal, was treiben wir da?«
Kristin fragte sich, was sie darauf antworten sollte. Sie unternahm einen Versuch: »Wir informieren. Wir halten das Publikum auf dem Laufenden. Wir kritisieren und decken auf. Bestimmen das Thema des Tages… Soll ich weitermachen?«
»Aber weißt du, was wir eigentlich tun? Wir, die wir mit den Fernsehnachrichten arbeiten? Was unser wichtigstes Ziel ist?«
Kristin zog die Schultern hoch. »Die Zuschauer an den Sender zu binden?«
»Wir sind ein verfluchtes Ritual! Wir bestätigen, dass die Welt besteht. Abend für Abend. Rund um den Globus. Die Fernsehnachrichten sehen überall gleich aus. Wir surfen auf den Wellenkämmen. Den Höhepunkten. Eye candy and sound bites aus der dramatischen Welt. Kleine Fragmente der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die aus Bildern besteht. Emotionen. Engagement. Dramatik. Eine andere Wirklichkeit als die der Zeitungen oder des Radios. Aber verdammt noch mal doch auch ein Teil der Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die den Zuschauern sagt, dass sie beruhigt ins Bett
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