Tabu: Thriller
Kamera und fährt mit tränenerstickter Stimme fort.
»Helfen Sie mir! Bitte! Zeigen Sie das hier heute Abend im Fernsehen! Damit er mich nicht…«
Die Schluchzer werden stärker. Sie fängt bitterlich an zu weinen. Ihre Hände zittern. Nach einer Weile gewinnt sie die Kontrolle zurück.
»Bitte! Tun Sie, was er sagt! Bitte!«
Kristin hatte Tränen in den Augen. Sie sah von Wolter zu Skaug. Wolter griff sich an die Stirn und massierte seine Nasenwurzel.
Keiner von ihnen sagte etwas.
Wolters Telefon begann zu klingeln. Er nahm nicht ab. Als es endlich verstummte, fragte er leise: »Haben wir eine Wahl?«
Weder Kristin noch Skaug antworteten direkt. Nach einer Weile sagte Kristin: »So was nennt man wohl Erpressung…«
»Das kannst du laut sagen«, sagte Wolter scharf.
»Ich verstehe den Sinn der Bibelzitate nicht. Und wer ist Lilith?« Kristin sah die beiden Männer an.
»Der Kerl ist doch komplett irre«, sagte Skaug.
Völlig irrational fühlte Kristin sich für die ganze Sache und ihren Ausgang verantwortlich. Als ob sie darum gebeten hätte, die Videokassetten geschickt zu bekommen, um ihre Karriere voranzutreiben.
»Wer unterrichtet Vang?«, fragte Skaug.
»Ich nicht«, sagte Kristin. »Ich sehe nach, wer Lilith ist.«
Wolter wedelte müde mit der Hand.
Kristin ging auf direktem Weg ins angrenzende Büro und rief einen alten Informanten in Blindern an, einen Dozenten in Volkskunde. Jedes Jahr zu Weihnachten und Ostern hatte sie ihn über die norwegischen Feiertagstraditionen interviewt. Warum sie Weihnachtsbäume hatten, ob der Weihnachtsmann norwegisch oder eine Erfindung Walt Disneys war, und was um alles in der Welt Eier und Kriminalromane mit Ostern zu tun hatten.
»Was weißt du über Lilith?«, fragte sie, als sie mit den Höflichkeitsfloskeln fertig waren.
»Ich hoffe, das hat nichts mit dem Aquarius-Fall zu tun«, sagte er.
»Wieso?«
»Weil Lilith die größte Xanthippe aller Zeiten war.«
Lilith. Die Böse. In der nordischen Mythologie die Urmutter der unterirdischen Wesen. Die alten Juden sahen in ihr einen nächtlichen Dämon. Es hieß, sie sei Adams erste Frau gewesen, die ihn für wollüstige Dämonen verließ.
Lilith. Die höchste der weiblichen Dämonen. Die neugeborene Kinder entführte und tötete. Die schlafende Männer verführte und ihr Blut trank.
Kristin bedankte sich für die Hilfe und legte auf. Sie kniff die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten. Das arme Mädchen!, dachte sie. Arme Marianne, das arme, arme Mädchen!
2
In Absprache mit der Polizei wurde entschieden, die ungefähr eine Minute lange Aufnahme der unbekannten Marianne zu senden. Die letzte Drohung war ernst gemeint gewesen. Sie hatten nichts zu verlieren, wenn sie der Forderung nachkamen. Natürlich wollte Wolter sich nicht erpressen lassen, aber verdammt, selbst die New York Times hatte ein Manifest des amerikanischen Terroristen »Unabomber« veröffentlicht, in der Hoffnung, dass er endlich aufhörte, Briefbomben zu verschicken. Das Leben eines jungen Mädchens stand auf dem Spiel, und wenn die kleinste Chance bestand, es zu retten, indem die Bilder gezeigt wurden, warf er gern seine Prinzipien über Bord.
Um einen Aufstand zu vermeiden, wollte Wolter Runar Vang nach der Ausstrahlung als Gast im Studio haben. Die Redaktion brauchte Rückendeckung. Von Angesicht zu Angesicht mit der Nation sollte Vang bitte sehr bestätigen, dass die Polizei »24 Stunden!« sozusagen angefleht hatte, Mariannes Hilferuf zu senden.
Kristin stellte den Beitrag zusammen. Sie hatte immer mehr das Gefühl, dass es ihr Fall war. Anfangs konnte sie noch so tun, als ginge sie das Ganze nichts an, als wäre sie nur zufällig die Empfängerin der Videokassetten. Aber inzwischen hatte sie eingesehen, dass das kein Zufall war. Aquarius – wer immer er sein mochte – hatte sie aus der Masse neuer Gesichter im Fernsehen herausgepickt. Sie wusste nicht, warum. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Sie eröffnete den Beitrag mit Archivbildern der vorangehenden Fälle. Sie verwendete eine Minute, um über den Kritikersturm gegen »24 Stunden!« zu referieren, und sie interviewte Wolter, der betonte, dass sie die Aufnahme von Marianne ausschließlich in der Hoffnung zeigten, damit ihr Leben zu retten. Ehe Kristin zu dem eigentlichen Appell kam, kündigte sie an, dass nach dem Beitrag drei direkte Durchwahlnummern zur Redaktion eingeblendet würden. Die Polizei und ein Krisenpsychiater waren vor Ort, um mit den
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