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Tabu: Thriller

Tabu: Thriller

Titel: Tabu: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Egeland
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Briefkästen ein an Kristin Bye adressierter Umschlag befand, hätten sie Bilder von dem Mann. Danach mussten nur noch die Unschuldigen der Reihe nach ausgeschlossen werden. Aber die acht Briefsendungen an Kanal 24 waren nur vier Antworten auf Preisausschreiben, eine Bewerbung, zwei Pressemitteilungen und eine Beschwerde, dass neunorwegische Moderatoren und Fernsehansager nicht untertitelt würden.
    Sie ist hübscher als die anderen Mädchen. Sogar hübscher als Anita. Sie erinnert ihn an Linda.
    Er sitzt auf einer Bank, im kühlen Schatten der Ulmen, als sie aus der Tür gestürmt kommt und die Treppe hinunterläuft. Kurzer Rock, lange Beine.
    Er atmet den merkwürdigen Duftmix von Abgasen und Gras ein, als er ihr mit dem Blick folgt.
    Gute Figur. Geschwungene Hüften.
    Als sie anhält, um die Straße zu überqueren, steht er auf, schaut auf die Uhr, gähnt und schlendert hinter ihr her.
     
    Sie hat noch ein paar Besorgungen in der Stadt zu machen. Er wartet auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite, solange sie in den Läden ist.
    In der Straßenbahn ist kein Sitzplatz zu ergattern, also bleibt er, die Hand in einer Schlaufe, direkt hinter ihr stehen. Die Bahn fährt schuckelnd durch eine Kurve, und sie dreht sich kurz um. Er erschrickt, als ihre Blicke sich treffen. Er lächelt, als wären sie alte Bekannte, die sich zufällig begegnen. Sie lächelt vorsichtig zurück. Sie hat mich nicht wiedererkannt, denkt er erleichtert. Und enttäuscht.
    Vor einem ausländischen Laden steigt sie aus und kauft eine Konservendose und einen halben Liter Cola light. Er geht an ihr vorbei die Straße hinauf, und als er merkt, dass sie ihm folgt, geht er mit raschen Blicken über die Schulter weiter. Er grinst. Das ist das erste Mal, dass er jemanden von vorne verfolgt.
    Er läuft fast, überquert die Straße und biegt in einen Park ein.
    Sie folgt ihm.
    Hat sie mich gesehen?, denkt er. Das kann nicht sein.
    Er ist unsichtbar. Solange er sich richtig verhält. Sie kann ihn nicht gesehen haben.
    Er setzt sich auf eine Bank, neben eine alte Frau mit einem Pudel an der Leine. Er schaut zu Boden. Die alte Frau nimmt eine Plastiktüte mit altem Brot und füttert mit den Krümeln die Tauben, die sich gurrend um sie scharen.
    Sie macht einen großen Bogen um die Tauben.
    Sie hat mich nicht gesehen!
    Auf der anderen Straßenseite, vor einem Mietshaus mit Ausblick auf den Park, bleibt sie stehen und geht hinein.
    Er schlendert über die Straße, die Hände in den Hosentaschen. Bückt sich und bindet die Schnürsenkel zu.
    Der Gehweg ist leer. In den parkenden Autos sitzt niemand. Trotzdem zieht er den Schirm seiner Kappe in die Stirn und setzt die Sonnenbrille auf.
    Er bleibt vor ihrem Hauseingang stehen und studiert die Namen auf den Klingelschildern. Es ist eine sorgfältig gearbeitete Platte mit aufgeschraubten Namensschildern in poliertem Messing.
    Sie wohnt im dritten Stock. Rechts. »Kristin Bye« liest er auf ihrem Messingschild.

Der Traum

I
    In den Träumen erscheint Bø wie ein Trugbild aus uralten Zeiten. Die Blockhauswände, die von der Sonne gebleichten Rundhölzer, in denen die Fensterscheiben schwarz funkeln. Zweihundert Jahre lang hat die Almhütte im Schutz des Bergvorsprunges Wind und Wetter getrotzt.
    In den Träumen ist nie ein Mensch auf der Alm.
    In Wirklichkeit war sie mit vielen Menschen dort gewesen – ihren Eltern, ihrem Bruder Halvor, Freundinnen, Liebhabern -, aber in ihren Träumen ist sie immer alleine dort.
    Hinter den Rundhölzern schlummern die Zimmer im Dunkel. Bei jedem Windstoß, der um die Hausecke pfeift, knarren Boden und Wände. Eine altersschiefe Standuhr tickt hohl und in ihrem ganz eigenen Tempo. In einem unebenen Spiegel formt der Mondschein diffuse Figuren.
    Es gab eine Geschichte über den Spiegel in Bø. Eine der kleinen Töchter ihrer Ururgroßeltern soll in dem Spiegel gefangen sein. Das Mädchen hatte sich in dem Wald unter der blau schimmernden Felswand über der Alm verlaufen und war nicht zurückgekommen. Die Familie war überzeugt, das Bergvolk habe sie entführt. Zwei Wochen nach dem Verschwinden des Mädchens, spät in einer Herbstnacht – der Schnee schlug gegen die Scheiben -, hatte die Ururgroßmutter einen lauten Schrei ausgestoßen: Sie hatte ihre kleine Tochter in dem Spiegel gesehen und sich von diesem Erlebnis nie wieder erholt.
    Als Kristin aufwachte, noch gefangen in allen möglichen wirren Träumen und Erinnerungen, wäre sie gerne noch eine halbe Stunde liegen

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