Tabu: Thriller
geblieben, um sich in die Sommer ihrer Kindheit in Juvdal in der Telemark zurückzuträumen. Unten im Ort, zwischen der Reichsstraße und dem Fluss, lag der Hof ihrer Mutter. Sie kannte jeden Stein und jede Wurzel auf dem Viehpfad, der den Hang hinauf zur Alm führte.
Jetzt betrieb Halvor den mütterlichen Hof und kümmerte sich um die Almhütte.
Kristin setzte sich im Bett auf, gähnte und rieb sich die Augen. Sie hatte lange nicht mehr von Bø geträumt. Sie schielte zum Wecker. Halb zehn. Sie hatte heute frei und sich nichts vorgenommen.
Außer es kam ein Anruf aus dem Sender. Außer das Video von Marianne traf ein.
Sie hoffte inständig, dass Aquarius sie mit weiteren Videos verschonte.
Bevor sie in die Schule gekommen war, hatte Kristin die Winter in Oslo und die Sommer auf dem Hof ihrer Mutter oder oben auf der Alm verbracht. Bø war damals das Familienferienparadies gewesen. Bis ihre Mutter krank wurde. In den ersten Jahren nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie die Alm gemieden, doch später hatte sie ihre Liebhaber dorthin mitgenommen; Knut-Olav, der sich weigerte, das Außenklo zu benutzen, weil er fest davon überzeugt war, dass ihn aus der Finsternis ein Paar tierische Augen angestarrt hatten… Sigmunn, der fest davon überzeugt war, dass es in der Hütte spukte… Kjell Rune, der sich bei dem Versuch, auf dem morschen Zaun zu balancieren, den Daumen gebrochen hatte… Per-Sverre, mit dem sie sommersüße Stunden im Heu in der Scheune verbracht hatte. Nur Marcus hatte nie mitkommen wollen.
Unter einem Felsblock gab es eine Quelle mit Trinkwasser, und im Erdkeller unter der Küche standen noch immer Konserven von 1965 und Einmachgläser mit Großmutters Marmelade.
Sie strampelte die Daunendecke weg und ging direkt unter die Dusche. Das Wasser war so eiskalt, dass sie eine Gänsehaut bekam.
Hinterher stellte sie sich ans Fenster, band den Bademantel zu und schaute auf die Straße. In einem parkenden Lieferwagen fiel ihr Blick auf zwei Hände, die auf dem Lenkrad lagen. Der Wagen stand schon eine ganze Weile dort. Ein geduldiger Mensch; auf wen der wohl wartete?
Als sie mit dem Frühstück fertig war, rief Gunnar an und lud sie zum Abendessen ein. Sie traute ihren Ohren kaum. Abendessen? Bei Gunnar? »Das muss Aquarius sein, der mich in eine Falle lockt!«, lachte sie in den Hörer.
Sie schaltete das Radio ein, kochte Kaffee und genoss es, in dem dünnen Seidenmorgenrock in der Wohnung herumzutrödeln.
Mit halbem Ohr hörte sie die Halb-eins-Nachrichten, während sie sich langsam anzog und das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
Vielleicht, dachte sie und schnitt eine widerstrebende Grimasse, wäre es mal wieder an der Zeit, diesem Adlerhorst mit dem Staubsauger auf den Pelz zu rücken?
2
Gunnars Wohnung lag in einem eindrucksvollen, aber abseitigen Mietshaus in einer Seitenstraße der Bygdøy Allé. Zwischen der Hausfassade und dem Gehweg war ein zwei Meter breiter, hellgrüner Rasenstreifen. Die Eingangstür erinnerte an das Portal einer Kathedrale. Die Treppe, die in die dritte Etage führte, war breit und gefliest.
Gunnar war kein Meisterkoch. Sein Leben war von Konservendosen, Spiegeleiern und Fertiggerichten geprägt gewesen, die man nur aufwärmen musste. Aber heute Abend hatte er sich Mühe gegeben. Auf dem Tisch lag ein Tischtuch (ungebügelt, aber immerhin ein Tischtuch). Er hatte vier Kerzen angezündet. Aus der Küche zog der Duft von Lammbraten und (sie traute ihrer eigenen Nase kaum) – Knoblauch? – herüber. Gunnar hatte sich eine fleckige Schürze umgebunden und servierte ihr, nachdem er sie zum Sofa geleitet hatte, einen bereits gemixten Martini – geschüttelt, nicht gerührt . Er stellte das Essen auf den Tisch und zog den Stuhl für sie vor, als sie sich setzte.
Alter Charmeur, dachte sie.
»Ich habe dein Samstagsporträt gelesen. Fantastisch!«, sagte sie.
»Du meine Güte, so ein unwichtiges Meisterwerk.«
Sie sah ihn an. »Fällt es dir schwer aufzuhören?«
Er schnitt eine Grimasse, die alles heißen konnte.
Sie lachte. »Es hat mir gefallen, was du über seine bürokratischen Formulierungen gesagt hast. Wie war das noch gleich? ›Die Argumente klingen wie Paragraphen…‹«
»›Den Generalstaatsanwalt zu zitieren, ist, als malte man mit geschlossenen Augen ein Paragraphenzeichen.‹ Vermisst du das Schreiben nicht?«
»Oft.«
Der Braten war delikat. Zart und saftig. Er schaute verlegen zu Boden, als sie seine Kochkünste lobte. Schielte zu dem alten
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