Tabu: Thriller
dachte an Kristin. Mit klopfendem Herzen. Studierte die Schatten an der Zimmerdecke und fragte sich, ob er im Begriff war, einen Herzanfall zu bekommen. Oder einen Gehirnschlag.
Zu guter Letzt drehte er sich auf die Seite, streckte die Hand aus und fand das Kabel mit dem Lichtschalter. Mit dem Daumen knipste er das Licht an. Er klappte das Buch auf, und als er mit den Augen die Seite nach der Stelle absuchte, an der er mit dem Lesen aufgehört hatte, kam ihm der alte Fall in den Sinn.
Die verwunschene Villa
I
Er wohnte in einer verwunschenen Villa in einer stillen Nebenstraße in Grefsen. Das Haus lag zurückgezogen in einem großen Garten. Dunkle Fenster, zugezogene Gardinen. Die weiße Farbe blätterte von den Wänden. Das Anwesen musste einmal vornehm und gepflegt gewesen sein, doch jetzt war es dem Verfall preisgegeben; Löwenzahn und Beifuß sprossen in den Ritzen zwischen den Steinplatten, die Beete waren von Brennnesseln und Wegerich überwuchert, und die stattliche Grasfläche war schon lange nicht mehr gemäht worden. Ein verbeulter, grüner Briefkasten mit Rostflecken hing schief am Maschendrahtzaun. Jemand hatte mit der Hand »Strøm« daraufgekritzelt.
Polizeidirektor Runar Vang war bereits einmal an dem Haus vorbei bis zum Ende der Straße gegangen. Jetzt drehte er um und kam zurück. Er war allein. Er hatte niemandem gesagt, wohin er wollte. Manchmal musste er mit eigenen Augen sehen und sich mit all seinen Sinnen selbst einen Eindruck verschaffen, eine eigene Meinung bilden. Er stellte sich vor, tatsächlich seherische Fähigkeiten zu haben. Doch dieses Mal klappte es nicht. Keine vagen Vibrationen, kein Gespür für irgendetwas.
Etwas oberhalb des Hauses nahm er sein Handy und den Zettel mit Rune Strøms Telefonnummer aus der Tasche. Er ließ es dreißigmal klingeln, ehe er das Telefon ausschaltete.
Eine Hecke und ein paar alte Apfelbäume schirmten das Haus vor den Nachbarn ab. Er hielt sich dicht an der Wand, als er sich im Garten umsah. Obgleich niemand auf seinen Anruf reagiert hatte, verspürte er eine kindliche Angst, dass dort drinnen im Haus ein Komplize hocken könnte. Ein verkrüppelter Zwilling oder so was in der Art. In den amerikanischen Taschenbüchern, die er immer am Flughafen kaufte, hatten die bestialischen und verrückten Mörder gern einen verkrüppelten Zwillingsbruder, der immer dann auftauchte, wenn man dachte, die Gefahr sei vorüber. Aber er sah nichts Auffälliges; keine frisch ausgehobenen Gräber, keine blutgetränkten Kleider, keine versteckten Köpfe – bloß Gras, Unkraut und verfaulte Äpfel. Eine verbeulte Öltonne auf einem stählernen Gestell. Eine morsche Leiter. Das rostige Skelett einer Hollywood-Schaukel.
Er dachte: Ein Garten ist nichts für dich, Rune Strøm!
2
Als Vang die alte Frau am Fenster des Hauses vis-à-vis entdeckte, zuckte er zusammen, als hätte sie ihn auf frischer Tat bei etwas Ungesetzlichem ertappt. Die Frau trat rasch einen Schritt zurück, um aus Vangs Blickfeld zu verschwinden. Eine Spannerin, dachte er, die Informationsquelle der Nachbarschaft.
Vang blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, ehe er die Straße überquerte und bei ihr klingelte.
Zuerst wollte ihn die Alte nicht hereinlassen. Sie hatte die Sicherheitskette vorgelegt, starrte Vang misstrauisch durch den Spalt an und drohte damit, die Polizei zu rufen, wenn er nicht augenblicklich verschwand. Erst als er ihr seinen Dienstausweis entgegenstreckte, löste sie die Kette.
»Sie sind von der Polizei? Gott im Himmel, warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« Sie bat ihn einzutreten. »Sie haben doch sicher Kaffeedurst? So früh am Morgen. Die Polizei, so etwas.«
Die Alte war eine adrette, spatzenartige Frau mit silbergrauen Haaren und haselnussbraunen Augen. Sie führte Vang in ein übermöbliertes, altmodisches Wohnzimmer und bat ihn, auf dem weichen Sofa Platz zu nehmen, ehe sie in der Küche verschwand.
»Und ich dachte, Sie wären ein Einbrecher«, rief sie durch die offene Küchentür. Vang hörte sie hantieren und mit Geschirr klappern. Kurz darauf kam sie mit einem Tablett wieder, auf dem Tassen und Teller, Kuchen, Plätzchen und Kaffee standen.
»Ein Einbrecher?«, amüsierte sich Vang.
Sie goss ihnen beiden Kaffee ein. »Nicht dass Sie so aussehen würden, Gott bewahre, nein, aber wem kann man denn heute noch trauen? Sie wissen ja, wie das ist, Sie sind ja von der Polizei.«
Der Kaffee duftete so wie der von Herdis. Die Tassen und Teller waren aus
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