Tabu: Thriller
Lachgasrausch überzeugt gewesen war, vom Schritt bis zum Kinn aufzureißen. Diesem Mann war alles zuzutrauen. Das hatte er ausführlich unter Beweis gestellt. Alles. Sie sah es in seinem Blick. Er hatte schöne Augen, aber in diesen Augen fehlte etwas. Leben. Hinter der Angst vor den Schmerzen und dem Leid, das er ihr womöglich zufügte, lauerte die Gewissheit, dass er sie früher oder später umbringen würde. Erschießen. Erdrosseln. Ertränken wie ein Katzenjunges. Vergiften.
Trotzdem war sie nicht bereit, sich der Furcht unterzuordnen. Jedenfalls nicht, wenn er bei ihr war. Sie wollte ihm so lange in die toten Augen schauen, bis er den Blick abwandte.
Das Zimmer war ungemütlich. Zimmer? Das ist eine Zelle, Frøydis, eine Todeszelle! Bei dem Gedanken an all die Frauen, die vor ihr auf dieser Matratze gelegen hatten, wurde ihr übel. Sie hatten auf dieselben Einrichtungsgegenstände gestarrt: den Fernseher, in dem er die merkwürdigsten Filme abspielte, den riesigen Spiegel, den kleinen Tisch mit der Häkeldecke und die Vase mit den Plastikblumen. Man konnte fast meinen, er hätte versucht, es ein bisschen gemütlich zu machen.
Gemütlich? Na ja… Nicht gerade wie im IKEA-Katalog, Frøydis! Aber über Geschmack lässt sich streiten…
Sie fragte sich, wieso er sich solche Mühe mit dem Essen machte. War das noch wichtig?
Sie hatte die Mordfälle nicht sehr aufmerksam verfolgt. Es hatte sie nicht interessiert und fast ein bisschen mit Abscheu erfüllt, mit welcher Sensationslust sich die Medien auf die tragischen Geschichten gestürzt hatten. Warum schweigen sie solche Sachen nicht einfach tot?, hatte sie gedacht. Sie war und blieb nun mal eine Moralistin. Jetzt bereute sie es, die Sache nicht aufmerksamer verfolgt zu haben. Denn dann wüsste sie, wie lange er seine Opfer normalerweise gefangen hielt, ehe er sie umbrachte. Ein paar Tage? Eine Woche?
Eva musste sie inzwischen doch als vermisst gemeldet haben?
Der Gedanke an ihre Geliebte trieb ihr Tränen in die Augen. Nach der Scheidung vor fünf Jahren war sie mit ein paar Männern zusammen gewesen, ehe sie sich, ausgerechnet, in Eva verliebte. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass es sie zu Frauen hinzog. Aber dieses Ziehen war nachhaltig und süß zugleich; als hätte sie einen bislang unbekannten Körperteil von sich entdeckt. Sie war unsicher gewesen, wie die Jungen es aufnehmen würden – sie waren in einem schwierigen Alter -, aber offenbar spielte es für sie keine Rolle, ob ihre Mutter das Bett mit einem neuen Mann oder einer neuen Frau teilte. Sie waren nett zu Eva, verbrachten jedes zweite Wochenende bei ihnen, aßen Chips und tranken Cola, rülpsten und betrachteten die neu entdeckte Leidenschaft ihrer Mutter als peinliche Kuriosität.
Frøydis brachte sich in eine angenehmere Position auf der Matratze.
Sie fragte sich, was Aquarius antrieb. Was ging im Kopf eines Mannes vor, der Frauen gefangen hielt, ehe er sie tötete? Sie erinnerte sich nicht, etwas von Vergewaltigung gelesen zu haben. Das hätte eine Erklärung sein können. Auch wenn die Tat dadurch nicht verständlicher wurde, Gott bewahre, aber immerhin wäre es eine Erklärung. Oder lag die Lösung womöglich genau im Unerklärlichen, in der Sinnlosigkeit?
Mitte der Siebziger war sie mit ihrem Freund Asle durch Lateinamerika gereist und dabei Augenzeugin einer Liquidierung geworden. Ein Jeep mit einem Offizier und fünf Soldaten war vor einem Fiat in die Bremsen gestiegen, die Soldaten waren aufgesprungen und hatten das Feuer eröffnet. Als die Maschinengewehrsalven verstummten, war der Fiat durchlöchert wie ein Sieb und die Scheiben blutverschmiert. Die Soldaten hatten sich gesetzt, und der Jeep war einfach weggefahren. Frøydis und ihr Freund waren auf dem Gehweg stehen geblieben, vor Schock wie gelähmt, während das Leben um sie herum wieder in Gang kam. Sie hatte nie aufgehört, sich über dieses unwirkliche Gefühl, das für sie mit diesem Ereignis verbunden war, zu wundern. Es war das gleiche Gefühl, das jetzt ihre Nerven betäubte.
Ihr war klar, dass sie ihrem Wächter ausgeliefert war. Das Unabwendbare der Situation hatte in gewisser Weise aber auch etwas Beruhigendes. Sie konnte nichts tun. Er konnte sie umbringen, und sie konnte nichts dagegen tun. Nur ihre Selbstachtung und Würde konnte er ihr nicht nehmen. Zu ihren Gedanken hatte er keinen Zugang. Ihren Blick konnte er nicht steuern. Er konnte sie umbringen, das schon, aber um ihrem Blick zu entgehen, musste er
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