Tabu: Thriller
ihr schon die Augen ausstechen.
Besser, das nicht laut vor ihm zu äußern. Er war der Typ, der sie beim Wort nahm.
Die Entlarvung
I
Gunnar Borg wartete im Türrahmen, als Kristin die Treppe heraufgehastet kam. In der Gegensprechanlage hatte er kurz angebunden und abweisend geklungen, aber als sie um den letzten Treppenabsatz bog, sah sie, wie sich der bittere Zug um Augen und Mund in einem Lächeln auflöste. Sie blieb auf der vorletzten Stufe stehen und schnappte übertrieben nach Luft.
Ådne überholte sie, schüttelte Gunnar die Hand und fragte, ob es in Ordnung sei, wenn er sich die Wohnung ansah.
Gunnar ließ ihn mit einem Brummen vorbei, fing Kristins Blick ein und schüttelte betrübt den Kopf. Dann strich er ihr mit seinen rauen Fingerkuppen über die Wange und das Haar. »Mein armes Mädchen«, murmelte er.
Kristin hörte Ådne im Wohnzimmer mit jemandem reden.
Sie betraten den Flur. Kristin sah nur Ådnes Rücken, während er mit einem Mann sprach, der sich ihrem Blick entzog. Gunnar ging ins Wohnzimmer und legte eine Hand auf Ådnes Schulter. »Da die Ordnungsmacht bereits anwesend ist, darf ich Sie bitten, nebenan im Esszimmer zu warten, damit wir uns ungestört unterhalten können.«
»Aber…«
»Ist schon in Ordnung«, bollerte die fremde Stimme.
»Seien Sie so gut und machen Sie die Tür hinter sich zu«, bat Gunnar und winkte Kristin herein. »Du kennst Oscar Lund noch nicht, nehme ich an?«
Oscar Lund war ein Riese von einem Mann; breitschultrig, muskulös und fast kahlköpfig. Trotz seiner mindestens siebzig Jahre sprang er vom Stuhl auf, um Kristin mit einem Handschlag zu begrüßen. Er stellte sich mit einer Stimme vor, die so tief wie das sonore Brummen eines Lastwagenmotors war.
Das Wohnzimmer roch nach Staub und Büchern.
»Oscar ist ein alter Freund von mir«, erklärte Gunnar.
»Freund?« Oscar Lund schlug sich auf den Oberschenkel. »Teufel, gut, dass ich das weiß!«
Gunnar überhörte ihn einfach. »Oscar ist pensionierter Polizeichef. Dezernat für Gewaltverbrechen. Er hilft im Polizeipräsidium aus.«
»Die meiste Zeit stehe ich bloß im Weg rum«, gluckste er.
Gunnar schenkte ihnen Kaffee aus einer großen Thermoskanne ein. »Wie ich bereits am Telefon erwähnte«, sagte er feierlich und sah abwechselnd von Kristin zu Oscar Lund, »habe ich vermutlich etwas herausgefunden, das für die Ermittlungen von erheblicher Bedeutung sein könnte.«
»Ach ja?«, brummte Lund. Sogar wenn er leise sprach, klang seine Stimme wie fernes Donnergrollen.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte Kristin.
»Ich glaube, ich habe ihn«, sagte Gunnar.
Er ging zu einem alten Sekretär, öffnete eine Schublade und drehte sich um. In der Hand hielt er einen Stapel DIN-A4-Kopien.
»Ich weiß es nicht«, sagte Gunnar, plötzlich zurückhaltend. »Es ist nur eine Vermutung. Intuition. Aber heute Nacht ist mir mit einem Mal ein Mann eingefallen, den ich vor Ewigkeiten interviewt habe. Ein seltsamer Kauz. Man sieht es ihnen an den Augen an, wisst ihr. Dass da etwas nicht ganz stimmt.«
Er legte die Blätter vor Kristin und Oscar Lund auf den Tisch. Alte Artikel. Sie zogen die Blätter zu sich heran. Sie waren fast zwanzig Jahre alt. Die meisten mit Gunnar Borgs Unterschrift.
Oscar Lund fluchte leise. »Da hätte ich auch drauf kommen können!«, platzte er heraus.
»Das muss am Alter liegen«, frotzelte Gunnar.
Kristin überflog die Artikel.
Im Juli 1976 wurde eine junge Frau, Linda Merethe Gabrielsen, tot in der Badewanne ihrer Wohnung in Ammerud gefunden. Die Polizei konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie ertrunken war oder ertränkt wurde. Nach einigen Tagen wurde ihr Verlobter festgenommen und unter dem Verdacht des Mordes in Untersuchungshaft genommen. Vier Wochen später wurde er wieder freigelassen, weil die Polizei ihm nichts nachweisen konnte. In einem Interview mit Gunnar sagte der Mann, durch den Verdacht der Polizei wäre die Trauer noch schwerer zu ertragen. »Zu behaupten, ich hätte sie umgebracht, ist doch krank. Wenn ich Linda wirklich umgebracht hätte, hätte ich sie doch nicht in der Wanne liegen lassen und die Polizei alarmiert.«
Kristin las immer wieder seinen Namen.
Rune Strøm.
Rune Strøm.
Rune Strøm.
»Ich denke«, sagte Oscar Lund, »es ist an der Zeit, Vang zu informieren.«
2
Kristin wählte Vangs Durchwahl. Oscar Lund war soeben mit den zusammengerafften Zeitungsartikeln unterm Arm zur Tür rausgestürzt.
Eine Vorzimmerdame antwortete. Mit
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