Taenzer der Nacht
und der Dressman aus Paris. Ich schaute hinüber, und eine Sekunde lang schaute ich genau Malone an. Unsere Blicke kreuzten sich. Seine Augen waren blaugrau und ruhig. Wie ich viel später an diesem Morgen in meinem Tagebuch notierte, war es wie jener melo dramatische Moment in historischen Romanen, wenn der Held auf einem bevölkerten Marktplatz, auf einer staubigen Landstraße oder auf dem Berg Golgatha plötzlich Christus in die Augen blickt und für immer verwandelt ist. Gut, ich war nicht für immer verwan delt, aber ich war auserwählt – genug, um einige Zeit später an diesem Tag darüber zu schreiben, den Mo ment festzuhalten, als ich Malone ansah und mir dach te: Seine Augen sind wie die von Jesus Christus.
Aber in diesem Moment drehte sich Sutherland zu dem Düngemittelerben um und sagte: „Komm, mein Lieber, wir gehen uptown ! Eine kleine Kreuzigung an der Ecke Park und Seventy-fifth Street, nichts Ausge fallenes!“ Der Junge, bleich und willenlos, stand auf und folgte den ägyptischen Frauen, dem französischen Dressman und einer Reihe von Halston-Assistenten aus dem halbdunklen Raum hinaus, mit Sutherland in schwarzem Norell und Turban, der die Meute anführ te. Malone ging mit ihnen, und mit ihm die Magie des Raumes, die, wie ich dabei bemerkte, nicht aus der Musik, dem Licht, den Tänzern oder den Gesichtern bestand, sondern aus jenen Augen, die – still, tief und rein – dich mit dem Versprechen der Liebe anschauten.
3
I n den Jahren, bevor Malone nach New York kam, tat er all die Dinge, die ein junger Mann aus guter Familie tun sollte – ein junger Mann aus guter Familie bedeutet, aus einer Familie, die in jeder Generation, seit sie aus einer Kleinstadt in Deutschland kommend sich in Ohio niedergelassen hatte, einen oder zwei Ärzte hervorgebracht hatte, einen Richter und einen Professor. Diese typisch deutschstämmige Familie ar bei te te hart, hatte Erfolg, und verteilte sich allmählich über den ganzen Erdball, wenn sie auch weiterhin eine gewisse Zuneigung zu der Kleinstadt in Ohio spürte, in der sie alle aufgewachsen waren. Schon als Kind hatte Malone den Familienrundbrief lesen dürfen, der unter ihnen herumgeschickt wurde: Die Neuigkeiten betrafen normalerweise die Gemüse, die sie ange pflanzt hatten, das Wetter und die Jahreszeiten – die Ereignisse, die einer anderen Familie als vordringlich erschienen wären, wurden fast nur als Nachsatz aufge führt: Sally ging nach Korea, um als Krankenschwester zu arbeiten, Andrew machte eine Weltreise auf einem Schiff namens „Hoffnung“, Martha hatte entdeckt, daß sie Tuberkulose hatte, als sie eines Nachmittags ihren eigenen Speichel im Schullabor untersuchte, Joe war dem Alkohol verfallen. Pete war zum Finanzchef von Sears International befördert worden, Harry war ge stor ben. „Wir haben ein erfolgreiches Jahr im Squash hinter uns, wenn auch die Kohlrüben bei weitem nicht so schnell gewachsen sind, wie wir uns das vorgestellt hatten. Ihr wißt, wie sehr Lawrence an seinem Squash hängt. Es sieht so aus, als ob der Mais dieses Jahr auch etwas später ...“ und so weiter und so weiter. Malone liebte es als Kind, diese Briefe zu lesen; sie erschienen ihm so freundlich und geruhsam – wie friedlich auch, sich nur ums Wetter und das Getreide Sorgen zu machen. Und als er älter wurde, machte er die Erfah rung, wie bescheiden sie zudem waren, wenn sie das Schicksal ihres Gemüses interessanter fanden als das der menschlichen Pflanzen, die im Hintergrund zu größerem Ruhm heranwuchsen als das Squash – denn wenn sich der Familienbrief auch wie der Rundbrief eines Kleingartenvereins anhörte, ähnelte er in Malo nes Augen doch auch den auf Glanzpapier gedruckten Jahresberichten, die die Gesellschaften, bei denen sein Vater Aktionär war, ihm jedes Frühjahr schickten: Listen von Forderungen und Verbindlichkeiten, Gewin nen und Investitionsplänen. Das war die Familie von seines Vaters Seite: leidenschaftslos, vernünftig, hart arbeitend, und untereinander großzügig.
Sein Vater hatte eine Städterin geheiratet – aus einer großen, geistessprühenden irischen Familie aus den Vor orten von Chicago – und für ihren Geschmack waren diese Deutschen manchmal etwas zu leiden schafts los gewesen. Sie verließ mit ihrem neuen Ehe mann Chicago, ihre Freunde, ihre Ausflüge auf die Schlitt schuhbahn, Fahrten den Michigan Boulevard hinunter und zu den Ferien o rten in Wisconsin, und zog in eine Kleinstadt im südlichen Indiana; und dort
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