Taenzer der Nacht
was war es sonst? Das Geräusch einer Fernsehshow hallte über den Gang aus der Wohnung der Frau, die neben ihm wohnte, und ihr Gelächter, kalt, unheimlich und weit entfernt, ließ sein Herz schneller schlagen; es schien ihm, als sei er dem Tode nahe. Er schrieb wieder: „Du bist zu einem Leben verurteilt, das sich immer und immer wiederholen wird, wie jedes Leben – denn das Leben ist eine statische Sache, das Lesen von bereits beschriebenem Papier – aber während man che Männer das Glück haben, ein gutes Verhal tens muster zu wiederholen, haben andere das entge gen gesetzte Schicksal – und du kannst jetzt genau sehen, daß dein Leben zu derselben, sich endlos wieder holenden Erniedrigung verurteilt ist. Stell dir ein Ver gnü gen vor, in dem der Moment der Befriedigung der gleiche ist wie der Moment der Zerstörung: Küssen ist Gift; dieses Gesicht, nach dem du dich gesehnt hast, von dem du geträumt hast, zerfällt jedes Mal, wenn du es zu deinen Lippen hebst.“ Und mit einem ab schließen den Federzug schrieb er quer über die Seite: „Wenn dein Auge dich verletzt, reiße es aus.“
Aber wie sollte er das machen? Der große Fehler war ja, daß er jetzt nach all den Jahren ins Straucheln kam, und dabei dem leeren Ritual seines Lebens in der end - losen Abfolge der Wochen immer noch weiter nach ging. Sein Leben war eine Schande. Er haßte Jura; diese pharisäerhafen Wortklaubereien über die Aufteilung von Eigentum erschienen ihm nur als ein anderer Ausdruck für Tod-im-Leben. Er war nicht einmal be sonders gut darin. Er hatte alles nur durch stupide harte Arbeit erreicht. Er hatte keinen dieser Köpfe, die sich freiwillig Vertragsstreitigkeiten und den byzanti ni schen Auslegungen des Steuerrechts widmen, wie diese Küchengeräte, deren Bestimmung es ist, jedes Gemüse in zwölf Sekunden kleinzuschnit zeln. Er war sicherer denn je, daß er zu einem romantischen Leben bestimmt war. Kein Wunder, daß ihm jetzt, wenn er auf der Staße Fremden ins Gesicht sah, das dringende Flehen um Rettung aus den Augen sprach. Aber nie mand kam ihm zu Hilfe – bis er spät abends bei einem Aufenthalt in New York noch in seinem Büro, einer hoch gelegenen, erleuchteten Zelle an der Wall Street, an einem Schuldschein für die Republik von Zaire arbei tete und ein Bürobote mit einem Haufen Fern schreiben von seinem Chef in London hereinkam. Malone, der sich gerade fühlte wie eine Ratte, die kurz davor ist, sich das Bein abzubeißen, um endlich aus der Falle zu kommen, schaute zu ihm auf. Wie konnte er wissen, daß seine Sehnsucht, seine Einsamkeit, auf seinem Gesicht so klar geschrieben waren wie Druck buch staben auf dem Papier? Denn es machte gerade seinen Charme aus, daß seine Gefühle ihm immer klar in Augen und Gesicht abzulesen waren. Der Bürobote, ein junger Puertoricaner aus der Bronx in braunen Hosen und Tennisschuhen, legte die Fernschreiben auf dem Schreibtisch ab und ließ dann seine Hand auf Malones Rücken fallen. Sie beschrieb dort einen Kreis, und schob sich dann herum zu seiner Brust und seinem Bauch; und Malone drehte sich um, um ihn anzu schauen. Sie küßten sich. Es war der Kuß des Lebens. Er fühlte eine wilde Freude in seinem Herzen. Jemand trat ins Vorzimmer, der Junge verschwand, und Malo ne saß da mit dem Gesichtsausdruck der Heiligen Jungfrau auf den Gemälden der Verkündigung.
Im Sommer ist New York eine tropische Stadt – in dieser Hinsicht eigentlich zu allen Jahreszeiten – und als Malone das Büro spät an diesem Abend verließ, waren die Straßen überfüllt mit von den Straßen lampen strahlenden Gesichtern. Jede Straße, durch die sein Taxi fuhr, schien ihm voller Verheißungen. Er fuhr zum Yale Club und schrieb seinen Eltern einen langen Brief, in dem er seine Unzufriedenheit mit Jura erklärte, und am nächsten Tag kündigte er bei Courdet Bros., „um eine Karriere im Journalismus zu begründen“. Aber in Wirklichkeit wollte er eine Karriere in der Liebe beginnen.
Eines Abends hatte er sich mit der U-Bahn verfahren und kam am Sheridan Square wieder an die Oberflä che, der an diesem Sommerabend voll junger Männer war, die sich ansahen und in ausgelassenen Gruppen miteinander scherzten. Malone hatte sich in den Kopf gesetzt, hier in der Nähe eine Wohnung zu finden. Es war jetzt Mitte August. Er wollte nicht mehr der Mann sein, der nie etwas erlebte. Er zog sich von seinen frü heren Freunden und seiner Familie zurück, als ob er nach Bali gegangen wäre oder bei einem
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