Taenzer der Nacht
laufenden Menschen. Die puertoricanischen Frauen sitzen auf den Treppenstufen und geben ihren Babies Limonade, während die Sonne untergeht, und manch mal tanzen sie miteinander zum Gitarrenspiel eines Ehemannes. Die Platten der Musikbox in der Bar, in die die Polen jeden Abend mit tief ins Gesicht gezoge nen Hüten gehen, sind zehn Jahre alt. Niemand küm mert sich darum, sie einmal auszuwechseln. Sie hören zu, wie Dean Martin wieder und wieder singt ,,I Want to Be Around to Pick Up the Pieces“, während sich der Rauch von Verbrennungsöfen über die Gegend legt.
Es gibt hier kein Zeitgefühl – die Penner kommen und gehen; ein paar erkennt man wieder, und dann verschwinden sie nach Florida. Die Nutten stehen an den Ecken in ihren Hot pants, zittern unter dem kalten Mond, und die Sirenen von einem halben Dutzend Polizeiwagen, die zu einem Mord in der First Avenue eilen, steigen wie ein Chor himmlischer Stimmen in die Höhe und ersterben dann. Die wie eine Zigeunerin angezogene Wahrsagerin sitzt seit Jahren in ihrem Fenster. Das Beerdigungsinstitut liegt direkt neben dem Reisebüro und sieht auch genauso aus. Im Fenster des Reisebüros hängt ein Plakat von fünf jungen Polinnen, die aus einem metallenen Wohnwagen zu einem morastigen Teich laufen; sie laufen schon seit Jahren.
Schwer zu sagen, wie lange Malone dort lebte, aber für ihn (der früher Angst vor Männern hatte, die um Geld betteln, vor Typen, die vor lauter Drogen an der Ecke zusammenklappen, vor Pennerinnen, die auf ihrem Müll schlafen, vor den Weibern, die sich beim Gemüsehändler an der First Avenue über Pennies von Wechselgeld zanken, vor den klapprigen, schrillen Figu ren auf Plateau-Schuhen mit ihren dünnen Silhou etten) war es lange genug, um sich heimisch zu fühlen. Er hatte endlich eine Gegend gefunden, in deren Straßen er umherstreifen konnte, wo die Zeit verging, und man es nicht merkte; es war allen egal. Er war ein richtiger „prisoner of love“. Spät in der Nacht lag er völlig erschöpft auf dem Bett und mußte doch noch – ganz gegen seinen Willen – zu dem kleinen Park an der Fifteenth Street laufen, um zu sehen, ob da nicht ein Typ unter einem Baum stand und auf Liebe warte te. Solange dieses erotische Fieber dauerte, liebte er alles: die windgepeitschten leeren Straßen im Winter bei Nacht, die Stadtstreicher, die in den Dampfwolken schliefen, die aus den U-Bahn-Schächten aufstiegen; im Sommer die duftende Hitze, die Fliegen, die über den Obstständen summten, das Wasser, das von den Feuer hydranten tropfte; die schreienden Kinder, der Ge ruch von Plätzchen aus der polnischen Bäckerei, die in T-Shirt und Tennisschuhen verbrachten Tage, der beißen de Rauch, der aus den Schornsteinen der Ver bren nungsanlagen stieg und sich auf die Straßen legte. Er sah von seinem Dach aus die Sonne untergehen. Im Frühling liebte er die Regengüsse, die die U-Bahnhöfe feucht und kühl machten, und er blieb in den Toiletten und machte dort Sex. Nur der Herbst, diese kalte, harte, erschöpfende Jahreszeit machte ihn unglücklich; ließ ihn sich auf der Straße gefangen vorkommen; aber das verging, und er nahm sein Leben ohne Zeitgefühl wieder auf. Und so lebte er jahrelang – und wer könnte sagen, ob er in dieser trüben Behausung, die ihn gleich zeitig so erschreckte und faszinierte, blieb, weil er nur für die Liebe leben wollte, oder um all die ande ren Vorzüge, die er genoß, zu büßen? Liebe und Ernied rigung zugleich. Malone wurde einer der jungen Männer, die man morgens um acht gegen den Strom der Menge nach Hause laufen sehen kann, mit bla ss em Gesicht und tiefen Schatten unter den Augen, nach einer Nacht mit einem Mann in Chelsea: Gefangener der Liebe.
Tatsächlich wurde für Malone der ganze Bereich seines Lebens bei Tage bedeutungslos, und er fragte sich, wie es für andere Männer möglich war, neben dem Verfolgen erotischer Interessen noch etwas ande res zu tun; wie es ihnen möglich war, Geschäfte zu grün den, Häuser zu bauen, Squash zu spielen. Er wur de sich dessen bewußt, als er morgens mit der U-Bahn nach Hause fuhr, zusammen mit Massen von Leuten, die zur Arbeit fuhren – und während der Mann, der sich neben ihm an der Haltestange festhielt, auf dem Weg zur Hauptverwaltung der Citibank war, kam er gerade von einer langen Nacht mit einem ihrer Schal ter beamten nach Hause. Sie wurden vom durch den Tunnel rumpelnden Wagen gemeinsam hin und herge schaukelt, wie sie da an ihren Haltegriffen hingen: der
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