Taenzer der Nacht
er in dieser unmöglichen Pose, offensichtlich von einer kürzlich eingenommenen Droge gelähmt. „Ich glaube“, sagte Suther land atemlos, „er versucht, seinen Kamm aufzu heben! Willkommen“, er drehte sich zu Malone um: „Willkom m en in der Vergessenheit!“
5
D ie Lower East Side erinnert manche Leute an Fotos von Berlin kurz nach dem Krieg. Und tatsächlich sind bei manchen Blocks die Wänder der Mietshäuser so dünn wie Filmkulissen, deren Fenster den Blick auf den Schutt zusammengebrochener Häuser freigeben. Ich hatte manchmal den Traum, daß Bomben die ganze Nachbarschaft eingeebnet hätten, und stattdessen Bäu me, Gras und Schafherden dort gediehen. Aber das wird wohl nie Wirklichkeit werden. Die Lower East Side wird immer so bleiben, wie sie jetzt ist, wird schim mern in Wellen von Hitze, die im Sommer vom Asphalt aufsteigen, zusammenschrumpfen im bleichen Winterlicht, bis sie nur noch eine lange graue Mauer ist voller Feuerleitern, zu deren Füßen auf dem Bürger steig in der aschigen Luft alles voller Müll und Dreck steht. Arme Leute leben dort, Künstler und Gespenster – Polen, deren Viertel es früher einmal war, und Hip pies, die sich in den Sechzigern hier ansammelten. Aber die Zeit beider Gruppen ist vorbei, und jetzt ge hört der St. Marks Place den Friseuren, Zuhältern und Händlern von Secondhand-Klamotten. Das Haus, in das Malone zog, ist eine Art Geschichtsstunde dieses Stadtteils: Es beherbergte einmal den Electric Circus, ei ne Diskothek, die schick und weiß begann, und schließ lich unmodern und schwarz endete, um dann zum Zentrum für den fünfzehnjährigen Maharajah Mutu zu werden, der hier Gebetsstunden abhielt – und ich sah Männer in dunkelgrauen Anzügen nach der Arbeit um 17 Uhr dreißig den Bürgersteig entlanglaufen, um nicht zu spät zur Meditation zu kommen –, und dann eine Country-und Western-Diskothek wurde, die überhaupt nicht hochkam – kein Wunder: wenn das kein Widerspruch in sich ist. Schließlich wurden die Räume ganz geschlossen, und es strömte in den Winternächten keine Musik mehr aus den Türen, und es standen keine schwarzen Burschen mehr vor den Treppen und kämmten sich die Haare, und niemand kam mehr auf der Suche nach spirituellen Erkenntnissen. Und es saß nur noch da, ein gewaltiges Wrack in grellem Blau ... eine Abschreibungsruine der Mafia. An der höchsten Stelle des großen runden schwar zen Daches war ein einziges Fenster nachts hell erleuchtet – und das war Malone, der TShirts anprobierte.
Er verfügte jetzt über eine Sammlung von Klamotten, die beinahe ebenso vielfältig war wie der Inhalt des Schrankes, den ihm Sutherland in der ersten Nacht gezeigt hatte. Er verfügte über Overalls und Jeans, durch sichtige Plastik-Gürtel, karierte. Hemden und Arbeitsstiefel, Baseball-Mützen, und TShirts in jeder Tönung, die überhaupt nur produziert und verkauft wurde, und zusätzlich noch in den Schattierungen, die er selbst durch Färben und Bleichen hergestellt hatte. Seine leeren, faulen Nachmittage verbrachte er damit, Klamotten anzuprobieren und sich im Spiegel zu betrach ten. Der Spiegel war eine große Scherbe, und die Kleidungsstücke lagen im ganzen Raum verstreut, in Umzugskartons und Lebensmitteltüten, aber es war ihm ganz egal. Er war wie ein Schauspieler in seiner Garderobe, und bereitete sich immer für einen Auftritt vor. Er war frei. Frei, eitel zu sein, faul zu sein, zu träumen. Vor dem Spiegel zu stehen und ein T-Shirt nach dem anderen anzuprobieren, apfelgrün, hellgelb, olivgrün, schwarz, leuchtend rot, blaßrosa, beige, tür kis, und in den TShirts, Hosen, Gürteln zu wühlen, bis er schließlich die Sachen auswählte, in denen er dann auf die Straße ging. Für wen zog er sich da an? Für die Liebe, die er unweigerlich auf der Straße traf. Malone entwickelte sich zurück, als er allein an der Lower East Side leben mußte: Er fand zurück zu den Jugend träu men, wurde zum Mädchen vor dem Abschlußball, träum te von Kleidern, Liebe, von dem schönen Frem den, davon, begehrt zu werden. Er hatte so ein Leben führen wollen, voller Genußsucht, langen Tagen, Klatsch und Liebesaffären, und in diesem schäbigen Zimmer an der Lower East Side war er völlig frei, die zeitlose Existenz auszuleben.
Wenn man in diesem Stadtteil lebt, hat man keinen Sinn dafür, wie die Zeit vergeht. Die polnischen Män ner stehen in dunklen Anzügen und Hüten vor ihren Häusern und beobachten Stunde um Stunde die vor bei
Weitere Kostenlose Bücher