Täuscher
Malzkaffee und der darin eingebrockten alten Semmel zur Seite und stand vom Küchentisch auf. Er musste zum Dienst, sein Anzug hing noch am Schlafzimmerschrank, es war an der Zeit, sich fertig zu machen. Strumpfsockig, nur in langer Unterhose und Hemd, die Zeitung unter dem Arm, schlurfte er aus der Küche. Im Flur steckte er sie in die Tasche seines an der Garderobe hängenden Mantels, so würde er diesmal nicht vergessen, sie dem Nachbarn einen Stock tiefer vor die Tür zu legen. Die Hausgemeinschaft teilte sich das Abonnement. Johann Huther hatte durch seinen Beruf und die damit verbundene Stellung das Anrecht, sie als Erster zu lesen, danach wurde sie an die anderen Parteien weitergereicht. Die Braumandls im Parterre bekamen die Zeitung immer als Letzte. Die Braumandls waren sparsame Leute, dort angekommen, würde die Zeitung am nächsten Tag in rechteckige Stücke geschnitten werden, um aufgefädelt an einer Schnur im Etagenklo als Toilettenpapier zu enden. Zwei Blatt Zeitungspapier und ein Blatt Klopapier. Huther schüttelte seinen Kopf, die Zeiten waren schlecht, selbst das Klopapier war teuer geworden. Hätten sie nicht das Geld gehabt, das der Bruder seiner Frau von Zeit zu Zeit aus Amerika schickte, wäre es kaum möglich gewesen, mit seinen monatlichen Bezügen über die Runden zu kommen. Mehr als fünfzig Mark bekam er für den Dollar, und die Reichsmark verfiel und verfiel.
»Zuerst haben s’ unterm Kaiser den Krieg auf Pump finanziert: Das Geld wird schon reinkommen, wenn wir erst gewonnen haben. Und dann? Dann haben wir ihn verloren, den Krieg, und jetzt zahlt die neue Regierung die Reparationen auf Pump, und wir sind die Dummen, weil wir immer den Kopf hinhalten. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis der Staat seine Beamten nicht mehr bezahlen kann. Na ja, solang wir bloß Zeitungspapier zum Arschabputzen hernehmen müssen«, ging es Huther durch den Kopf. »Der Schwager hat schon recht, einfach weg müsst man, einfach weg.«
Huther graute es vor dem heutigen Tag, ihm waren Ratsch, Tratsch und Denunziationen zuwider.
Als er wenig später sein Büro aufsperrte, ging es ihm durch den Kopf, dass der Tag für die Kollegen Wurzer und Weinbeck bestimmt erfreulich verlaufen würde, schienen die doch bei dieser Geschichte geradezu aufzublühen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Huther, ob er den richtigen Beruf gewählt hatte.
Der Kriminaloberwachtmeister sollte recht behalten. Nur kurze Zeit später versammelte sich fast die ganze Stadt in den Fluren des Polizeipräsidiums. Ein jeder hatte etwas zu berichten. Besonders der Umstand, dass mit Hubert Täuscher ein Sohn aus einer angesehenen Landshuter Familie in die Tat verwickelt war, heizte die Gerüchteküche an. Hätte man den Aussagen nur halbwegs Glauben geschenkt, hätte Täuscher bei gut der Hälfte aller Landshuter Damen Musikunterricht genommen und der anderen Hälfte eindeutige Avancen gemacht. Und auch die Familie Ganslmeier war Gegenstand von Gerede: Jede zweite der Zeuginnen wusste von einem geheimnisvollen Geliebten der Ganslmeier oder einem alten Verehrer zu berichten, den sie vor dem Krieg zurückgewiesen hatte.
Dienstag, 14 . März 1922 ,
Landshut, Grasgasse,
Bürstenfabrikantensohn Hubert Täuscher,
7 . 15 Uhr abends
Hubert Täuscher lief gerade die Grasgasse entlang, als er rein zufällig auf Luck Schinder traf.
In den letzten Monaten hatten sie sich häufiger gesehen und auch des Öfteren gemeinsam etwas unternommen. Hubert imponierte Luck, der hatte es geschafft. Er war so weltmännisch, gut gekleidet, immer nach der neuesten Mode. Wenn sie sich trafen, sprach er davon, dass er ständig unterwegs sei, »geschäftlich in Amsterdam, Berlin oder Frankfurt«. Ganz beiläufig ließ er es einfließen, dabei hätte er es nicht erzählen müssen, man sah es ihm an. Luck kannte Gott und die Welt und hatte, wie es schien, immer mehr als genügend Geld in den Taschen. Wenn er in Landshut war, wohnte er dennoch bei seinen Eltern in einer kleinen Eisenbahnerwohnung in der Ludmillastraße, obwohl er sich bestimmt etwas anderes hätte leisten können.
Als Hubert ihn einmal darauf ansprach, bekam er zur Antwort: »Wegen der Mutter, da sie mich sonst doch noch weniger zu Gesicht bekommt. Und weil es so viel einfacher für mich ist, ich bin eh die meiste Zeit nicht da, da will ich mich nicht auch noch um eine eigene Bleibe kümmern.«
Hubert Täuscher hatte gemerkt, wie jemand von hinten auf seine Schulter tippte, und als er sich umdrehte, stand
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