Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
Haarsträhne, an die er sich klammerte. »Bist du dir sicher, dass die Tussi weiß, was sie tut?«
»Ja«, lautete die Antwort.
Hinter den Dünen fand Zarah den alten asphaltierten Landwirtschaftsweg, der beinahe geradlinig durch die Wiesen führte. Schweigend marschierten sie Richtung Norddorf, das in der Ferne schimmerte. Nach einer halben Stunde erreichten sie die ersten Häuser. Oft erzählte man sich, wie es hier vor dem Ende der Welt nur so von Badegästen wimmelte. Jetzt lag alles still da und verfiel immer mehr. Die Menschen waren fort, das Leben war der Insel ausgetrieben worden. Nur einige Frauen und Kinder hatten bleiben müssen, um den magischen Besetzern zu dienen.
Je weiter Zarah voranschritt, desto stärker stellte sich das Gefühl ein, beobachtet zu werden. Aus den Fenstern, die sie wie blinde Augen anstarrten, aus den langen Schatten der Dämmerungsstunde, aus jeder Pfütze, die der letzte Regen hier vergessen hatte. Ob sie wirklich wusste, was sie tat – da war sie sich nicht mehr sicher.
Reiß dich zusammen. Als du hierher aufgebrochen bist, hast du für ein fremdes Leben die Verantwortung übernommen. Ihr Blick streifte die rosafarbene Klette an Gallaghers Haarsträhne. Na gut. Für zwei.
Die hölzernen Schilder mit den Straßennamen wiesen ihr den Weg. Die Schatten wurden länger, formten sich zu lebendigen Umrissen. Sie sammelten sich zu Scharen, folgten den ungebetenen Gästen und tuschelten. Es klang wie das Rauschen des Windes, durch das sich ein seltsames Lied zu weben schien.
Friedbert rutschte auf Gallaghers Schulter hin und her, zupfte unaufhörlich an der Strähne. »Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich spüre da gewisse Schwingungen …«
»Sei ruhig«, flüsterte Zarah ihm zu. Als sie sich wieder dem Weg zuwandte, stand in der Mitte der Straße eine dunkle Gestalt, die sich sanft im Takt des Rauschens und des Liedes wiegte. Das Empfangskomitee war eingetroffen. »Gallagher, bleib hier. Verstanden? Keinen Schritt weiter.«
Je näher sie der Frau kam, desto mehr wurde sie von ihrer dämonischen Schönheit betäubt. Die kalte Perfektion des Gesichts barg etwas Gefährliches. Alle Züge waren klar definiert und starr wie die einer Porzellanpuppe. Die großen, ausdruckslosen Augen glänzten wie Murmeln. Auf einer Wange prangte ein Violinschlüssel – das Erkennungsmal der Sirenen, ähnlich dem Gjallarhorn der Aufseher.
In gehörigem Abstand blieb Zarah stehen und riskierte einen Blick zurück. Die anderen Schatten hatten sich viel zu nah an Gallagher gewagt, berührten ihn beinahe, griffen jedoch noch nicht an.
Zarah verbeugte sich vor der Frau, musste nicht lange überlegen, bis der Name ihr wieder einfiel. »Ich grüße dich, Himeropa, und bitte dich um Hilfe. Wo finde ich den Meermann Ekke Nekkepenn?«
Der rote Kussmund öffnete sich zu einem breiten Spalt und erstarrte. Die Lippen bewegten sich nicht mehr, obwohl die Töne aus dem roten, feuchten Schlund strömten: » Lieder, gib mir süße Lieder, Herr, zu deiner Frühlingspracht. Gabst dem Vogel sein Gefieder und des Sanges süße Macht. « Altertümlich klang der Gesang, erhaben wie ein Engelschor, und ein eiskalter Strom durchzuckte Zarah. In den Augen der Sirenen war sie also eine Fremde. Und Fremde durften die Insel niemals betreten, ohne ein neues Lied dafür zu opfern.
Enya hatte niemals gesungen, woher sollte sie jetzt einen Song kennen?
Kalt stierten die Murmel-Augen sie nieder.
Sie brauchte eine Lösung, aber Musik war Dämonen fremd wie … Veilchenblüten. Menschen konnten, was Dämonen versagt blieb.
»Erhabene Himeropa, darf ich dir meinen Begleiter vorstellen, der sich unsagbar freuen würde, dir ein Menschenlied schenken zu dürfen?«
Die Antwort war ein kaum merkliches Nicken.
Ich hoffe, du kannst singen, Gallagher. Zarah winkte ihn heran. Er kam und blieb neben ihr stehen.
»Du darfst der erhabenen Himeropa dein Lied vortragen.«
Seine Augenbraue zuckte hoch. Auf seiner Schulter gluckste Friedbert: »Ich hab doch gesagt, die Tussi hat ’nen Knall.«
Sie packte Gallagher an seiner Jacke und zog ihn näher zu sich. »Na mach schon«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wir brauchen einen Song.«
»Mal ehrlich«, flüsterte er zurück. »Was hast du dir bloß dabei gedacht? Ich bin ein Technik-Fuzzi und keine Reinkarnation von … Justin Bieber.«
»Ob dein – anscheinend verendeter – Biber singen konnte, ist jetzt egal. Wenn du kein Lied kennst, dann erfinde etwas. Du
Weitere Kostenlose Bücher