Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
»Bist du dir sicher, dass wir allein sind?«
»Aber natürlich, was denkst du bloß von mir?« Er schnüffelte theatralisch herum. »Hm. Du hast mit keinem Wort erwähnt, dass man nach deinen heimlichen Einsätzen ein Vermögen in der Reinigung lässt. Und das ist nicht einmal von der Steuer absetzbar.« Seine Stimme klang unpassend laut in der Stille der Nacht.
»Du hättest mich an sie ausliefern sollen, als du mir auf die Schliche gekommen bist. Aber nein, du musstest mir unbedingt helfen. Also jammer nicht.« Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Sie hätte seine Unterstützung überhaupt nicht annehmen sollen. Jetzt steckte er mittendrin und riskierte sein Leben für sie.
Er grunzte. »Zarah, mal ehrlich. Du bist nicht dazu geschaffen, Pläne zu schmieden, die auch aufgehen. Ohne mich wärst du längst aufgeflogen.«
»Angeber.«
Er rieb seine behandschuhten Hände aneinander. Das Leder knarzte. »Es ist kalt.«
»Willst du kuscheln? Rutsch näher.« Sie sah zu ihm auf, erblickte aber nur seinen Hinterkopf. Das schwarze, wellige Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Den Wirbel, an dem sie so gern mit dem Finger gespielt hätte.
Er spähte zu den Büschen hinüber, als hätte er doch etwas gehört, womöglich sogar gesehen. »Ich meine: Für den Herbstanfang ist es unglaublich kalt.«
»Solange du nicht anfängst, mit den Zähnen zu klappern wie ein Rudel geschorener Yetis, ist es schon in Ordnung. Sonst könnte das durchaus zu einem Problem werden. Ich sage nur: Alaska.«
»Hey …«
Wieder ein Geräusch. Sie packte ihn am Arm. Schritte? Auf jeden Fall ein Laut, als triebe sich noch jemand in der Nähe herum. Die Spitzel des Ordnungsamtes? Oder einfach nur jemand aus der Familie, der Müll wegbrachte oder etwas frische Luft schnappen wollte?
Ja, sicher, als gäbe es in dem abbruchreifen Haus nicht genug Durchzug. Wo zur Hölle blieb denn die Mutter?
»Entspann dich, da ist niemand. Ich habe alles unter Kontrolle.« Ash stieß sie mit der Schulter an. »Du bist heute ein wenig neben der Spur. Ist es wegen deiner baldigen Wandlung?«
»Mag sein.« Das Thema war nicht dazu angetan, ihr Unbehagen zu mindern. »Vier Tage. Vier Tage und sechs Stunden, dann bin ich achtzehn. Müsste ich da nicht langsam … irgendetwas spüren?«
»Weiß nicht. Mich hat es kurz davor zwischen den Zehen gejuckt. Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang, seine dämonische Zwiegestalt zu bekommen. Das wird schon. Und was Alaska angeht: Es herrschte Winter, ich war neun Jahre alt und …«
Sie ließ seinen Arm los und hätte fast geschmunzelt, so wie sie es zuweilen bei Menschen beobachtet hatte, aber nie richtig hinbekam. »… du hattest deine Ohrenwärmer verloren. Schon klar.«
Er stöhnte. »Wie lange willst du mir die Geschichte bloß noch unter die Nase reiben?«
»Keine Ahnung. Wie hoch ist denn die durchschnittliche Lebenserwartung der Rauchflügler-Dämonen? Und außerdem hast du damit angefangen.«
Es endete immer in Albernheiten. Immer. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn es mal anders enden würde. Wenn sie zugunsten dessen, was sie vielleicht bekommen könnte, das zerstörte, was sie hatte.
»Ja, das habe ich.« Er senkte den Kopf, und sein Haar verdeckte sein Gesicht. So plötzlich wie das Wetter an der Küste schlug sein Tonfall von heiter und sonnig in trüb und trostlos um. »Ich frage mich, wie diese Menschen die kalten Jahreszeiten überstehen, so ganz ohne Heizung, warmes Wasser … und überhaupt.«
Sie schaute auf ihre Hände, die wieder bebten. Manchmal brachte Ash sie auf andere Gedanken, manchmal half er ihr, alle Schwierigkeiten durchzustehen, und manchmal sprach er über Dinge, über die niemand sprechen durfte.
»Ist das wirklich alles, was wir für diese Menschen tun können?«, drängte er. »Sie aus Hamburg fortbringen und sich selbst überlassen?«
»Das ist besser, als sie der Abteilung für Opferungen zu überlassen. Wir geben ihnen zumindest eine Chance, nicht auf irgendeinem Altar zu enden, nachdem das Ordnungsamt sie durch die Mangel gedreht hat.«
»Wie groß ist die Chance, die wir ihnen geben, denn tatsächlich?«
Unverwandt sahen sie einander an. In der zurückweichenden Nacht wirkte sein junges Gesicht bleich und eingefallen, die hohen Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der wie von Pocken vernarbten Haut ab. Diese dämonischen Züge hätte ein Steinmetzlehrling gemeißelt haben
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