Tag der Buße
Rina.
Er hob den Kopf, dann richtete er sich ganz auf. »Du hast ja recht, das hast du nicht verdient«, sagte er. »Heute nachmittag hast du dich in der Küche mit einer Frau unterhalten …«
»Ja?«
»Das war Frieda Levine, die beste Freundin deiner Schwiegermutter?«
»Ja. Na und?«
Er holte tief Luft. »Sie ist meine Mutter.«
Rina brauchte einen Augenblick, um zu verdauen, was er da gesagt hatte. Sie konnte nur mit einem gehauchten was? antworten, dann fügte sie noch ein geflüstertes o mein Gott hinzu.
»Du sagst es.«
»Du bist ganz sicher …«
»Absolut«, sagte Decker. »Mit Gesichtern kenn ich mich aus, das gehört zu meinem Job.«
Rina rang verzweifelt nach Worten, aber ihr fiel nichts Passendes ein, außer daß Peter Frieda Levine überhaupt nicht ähnlich sah. Aber sie wußte, daß das genau das Falsche gewesen wäre, also schwieg sie.
Decker konnte nicht länger sitzen. Er stand auf und rannte die Treppe hinunter, in der festen Absicht, aus dem Haus zu laufen. Doch zu seiner eigenen Überraschung ging er statt dessen nur auf dem Wohnzimmerteppich auf und ab und trat den grünen Flor noch platter. In dem Zimmer war es warm und hell. Das funkelnde Kristall versprühte Farbtupfer, die auf den Wänden schillernde Regenbögen formten. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, verwandelte ein dreistöckiger Kronleuchter das Eßzimmer in einen glitzernden Saal. Er kam sich vor, als befände er sich in einem Palast aus hitzebeständigem Eis. Am liebsten hätte er mit einem Arm über die Tische gefegt und zugesehen, wie alles in tausend Stücke zersprang. Sein Selbstwertgefühl war erschüttert. Alles war nur Fassade gewesen. Dann entdeckte er Rina, die auf einer Couch saß und so elend aussah, wie er sich fühlte. Er wandte sich ihr zu.
»Was soll ich denn bloß tun?«
»Ich …« Rina seufzte. »Ich weiß es nicht.«
»Rina, ich seh genauso aus wie mein Vater – ich bin sein absolutes Ebenbild, der gleiche Teint, die gleiche Haarfarbe. Die Frau braucht nur einen Blick auf mich zu werfen, im Kopf ein paar Daten zusammenzurechnen, und dann fällt sie in Ohnmacht.« Er ging weiter auf und ab. »Mein Gott, warum bin ich bloß hierhergekommen? Ich wußte, daß sie in New York lebt. Ich wußte, daß sie eine orthodoxe Jüdin ist, aber ich hätte niemals damit gerechnet, sie zu treffen! Niemals! Mein Gott, in dieser Stadt leben Zehntausende orthodoxer Juden.«
»Das stimmt«, sagte Rina. »Aber wir konzentrieren uns halt meist auf bestimmte Wohngebiete. Peter, warum hast du mir nie erzählt, daß deine Mutter aus Boro Park ist?«
»Meine Mutter ist aus Gainesville, Florida …«
»Du weißt doch, was ich meine.«
Decker zwang sich, sich zu beruhigen. »Rina, ich wußte nicht, daß diese Frieda in Boro Park wohnt. In den Adoptionspapieren stand, daß sie fünfzehn war, Jüdin, in New York geboren, sonst nichts. Als ich ein bißchen nachgeforscht habe, hab ich festgestellt, daß sie immer noch in New York lebt, verheiratet ist und fünf Kinder hat. Ich wußte noch nicht mal, wo genau sie wohnt, außer daß es in einem der fünf Boroughs sein mußte, weil ich sie in städtischen Unterlagen gefunden hab.
Nachdem ich wußte, daß sie verheiratet ist und fünf Kinder hat, hab ich ihr nicht weiter nachspioniert. Statt dessen hab ich meinen Namen auf so eine Liste von Adoptierten gesetzt, die ihre leiblichen Eltern kennenlernen möchten. Ich hab mir gedacht, wenn sie mit mir in Kontakt treten will, wäre ich dazu bereit. Ich hatte keinesfalls vor, in ihr Leben einzudringen. Wie dem auch sei, sie hat mich nie angerufen – das war ihre Entscheidung und damit okay. Okay. Einfach okay. Und daran halte ich mich. Es ist ganz offensichtlich, daß die Frau kein Interesse hatte, und ich werde einen Teufel tun, daran was zu ändern.«
Soviel Schmerz in der Stimme. »Es tut mir leid, Peter«, sagte Rina.
»Mir nicht. Mir tut es kein … bißchen … leid. Ich bin bis jetzt verdammt gut ohne sie ausgekommen und sie verdammt gut ohne mich.«
Rina antwortete nicht. Decker blieb stehen.
»Ich weiß, das hört sich alles ziemlich wirr an.«
»Du bist sehr erregt …«
»Wie würdest du dich denn fühlen?«
»Ich würd mich aufregen … und verletzt sein.«
»Ich bin nicht verletzt, okay!« brüllte Decker. »Verletzt ist man, wenn man feststellt, daß man von seiner Frau betrogen wird. Nein, das hat mit verletzt sein auch nichts zu tun. Dann ist man wütend! Aber wenn die Wut nachläßt, dann wird sie zu
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