Tag der Entscheidung
vermutet hatte, wollte die Frau des Häuptlings sich gerade zurückziehen.
»Wartet, Lady Ukata«, rief Mara und benutzte eine Anrede, mit der ihre eigenen Leute eine Frau von ähnlichem Rang ehrten. »Ich habe mich noch nicht bei Euch dafür bedankt, daß Ihr mich aus dem Pferch befreit habt, und ich hatte auch noch keine Gelegenheit, Euren Leuten zu erklären, weshalb ich hier bin.«
»Es ist kein Dank nötig, Lady Mara«, antwortete Ukata und drehte sich zu ihr um. Die jüngeren Mädchen traten zur Seite und machten der Älteren den Weg frei. »Unsere Leute sind nicht das barbarische Volk, für das Ihr Tsuranis uns haltet. Als Frau, die Kinder zur Welt gebracht und sie in einer Schlacht hat sterben sehen, verstehe ich, warum unsere Männer euch noch immer hassen. Was den Grund angeht, warum Ihr hier seid, könnt Ihr das unserem Oberhaupt in Darabaldi sagen.«
»Wenn ich wirklich angehört werde«, sagte Mara mit einiger Schärfe in der Stimme. »Wie Ihr zugeben müßt, ist die Aufmerksamkeit Eurer Männer begrenzt.«
Ukata lachte. »Ihr werdet angehört werden.« Sie tätschelte die Hand der tsuranischen Lady; ihre eigene Hand war zwar voller Schwielen, aber die Berührung war sanft. »Ich kenne die Frau unseres Oberhauptes. Mirana und ich sind im gleichen Dorf aufgewachsen, bevor sie geraubt und zur Frau genommen wurde. Sie ist hartnäckig wie ein alter Felsen und wortreich genug, um den Willen eines jeden Mannes zu brechen, sogar dieses Schwachhirns von Ehemann. Sie wird dafür sorgen, daß Ihr angehört werdet, und wenn sie sich so lange über seine Männlichkeit belustigt, bis seine Geschlechtsteile vor Scham schrumpfen.«
Mara war plötzlich überrascht. »Ihr wirkt sehr ruhig, wenn Ihr von den Raubzügen sprecht, die Eure Frauen aus ihren Heimen und Familien reißen«, bemerkte sie. »Und ist es nicht so, daß Eure Männer Euch schlagen, wenn ihr wenig Schmeichelhaftes über sie sagt?«
Die Mädchen entließen eine Flut aufgeregter Fragen auf Maras Bemerkung, und viele schrien: »Da? Da?« Ukata gab nach und übersetzte für sie. Jetzt folgte lautes Kichern, das sich erst beruhigte, als die Frau des Häuptlings weitersprach. »Die Raubzüge, um Frauen zu gewinnen, sind … etwas Offizielles … ein alter Brauch in unserem Land, Lady Mara. Er stammt aus einer Zeit, in der Frauen noch seltener waren als heute und ein Mann erst dann als Mann galt, wenn er erfolgreich eine Frau geraubt hatte. Heutzutage werden die Frauen ohne Blutvergießen mitgenommen. Es gibt viel Geschrei und eine Verfolgungsjagd mit schrecklichen Vergeltungsdrohungen, aber das ist alles nur gespielt. Es gab eine Zeit, da war es nicht so – die Raubzüge in der Vergangenheit waren blutig, und Menschen starben dabei. Heute mißt sich der Verdienst eines Mannes daran, wie weit das Dorf entfernt ist, aus dem er eine Braut nach Hause bringt, und mit welcher Vehemenz sie von ihrer Familie und den Dorfbewohnern verteidigt wurde. Dieses Haus für unverheiratete Mädchen befindet sich sehr weit innerhalb unserer Verteidigungsanlagen. Ihr werdet aber auch bemerken, daß hier nur Mädchen leben, die alt genug sind und gerne einen Partner haben möchten.«
Mara schaute in die jungen Gesichter, die noch weich und nicht vom Leben gezeichnet waren. »Heißt das, Ihr wollt alle von Fremden mitgenommen werden?«
Ukata antwortete an ihrer Stelle auf Maras verständnislosen Blick. »Die Mädchen beobachten die jungen Kerle, die das Dorf besuchen, und die wiederum beäugen die Mädchen.« Sie lächelte. »Wenn sie den Eindruck haben, einem jungen Mann fehle es an Anmut, schreit das Mädchen überzeugend und stößt nicht nur die gespielten verächtlichen Furchtschreie aus; in einem solchen Fall wird der abgelehnte Bewerber von den Vätern des Dorfes weggejagt. Doch nur wenige Mädchen wollen links liegengelassen werden, wenn die nackten Krieger auf ihrem Raubzug sind. Übersehen zu werden bedeutet nämlich soviel wie häßlich zu sein oder einen Makel zu haben. Wenn ein Mädchen von einem Räuber nicht gestohlen wird, bleibt ihr nur noch eine Möglichkeit, einen Ehemann zu bekommen: Sie muß warten, bis zwei Bewerber es auf ein und dasselbe Mädchen abgesehen haben, dann auf den Rücken des Verlierers springen und so bis nach Hause reiten, ohne abgeworfen zu werden!«
Mara schüttelte den Kopf, verwirrt über einen so befremdlichen Brauch. Sie mußte noch sehr viel lernen, um genug zu verstehen, wenn sie mit diesen Fremden verhandeln wollte.
Ukata
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