Tag der Entscheidung
Fraktionen auf Kentosam zumarschierten, um die Stadt einzunehmen, war ein großer Konflikt nur eine Frage der Zeit. Die rivalisierenden Armeen konnten sich nur eine begrenzte Zeit voneinander fernhalten oder lediglich kleine Gefechte austragen. Keine ließ sich von den Dutzenden von kleineren Armeen abschrecken, die um die beste Position kämpften, von der aus sie sich auf jene Knochen stürzen konnten, die die großen Häuser im Zuge ihre Zerstörung zurücklassen würden.
Mit einer knappen Handbewegung bat Mara ihren Kommandeur in ihre Unterkunft. »Wie lange noch? Jiro muß bald handeln, entweder um unsere Reihen zu durchbrechen oder um die Truppen seiner Verbündeten im Westen zur Belagerung der Heiligen Stadt zu ordnen. Wie lange können wir uns noch zurückhalten, ohne die Unterstützung für Hokanu zu gefährden? Wenn etwas schiefgeht…« Ihre Stimme versagte; das erzwungene Warten quälte sie, und sie fühlte sich niedergeschlagen. Obwohl sie vollständig gerüstet und bereit war, hatte sie doch keine Möglichkeit, etwas zu tun. Wenn sie ihrer Hauptstreitmacht befahl, nach Kentosani zu marschieren, gab sie den Anasati-Truppen die Möglichkeit, den Fluß oder die Handelsstraßen zu erreichen oder sie von hinten anzugreifen. Doch solange die Acoma ihre Linien hielten, konnte Jiros Kommandeur nicht angreifen und nach Sulan-Qu durchbrechen, ohne die Vergeltung der Versammlung auf sich zu ziehen.
Doch es war schmerzhaft, unerschütterlich bleiben zu müssen – in dem Wissen, daß Ichindars Ermordung nur der erste Schritt eines überaus ausgeklügelten Komplotts war. Jiro hatte nicht umsonst ganze Jahre mit dem Bau von Belagerungsmaschinen verbracht oder großzügige Bestechungsgelder gezahlt und Verbündete in den Anwesen rund um das Land der Inrodaka gewonnen. Die Bedrohung für Justin würde aus dem Westen kommen, da war sie sicher, und ihre Kinder würden sterben, wenn die Feinde die Verteidigungslinien des Kaiserlichen Viertels überwinden konnten, ehe sie dort auftauchte. Die Kaiserlichen Weißen waren gute Krieger, doch wem galt jetzt, wo Ichindar tot war, ihre Loyalität? Ichindars Erste Frau besaß nicht einmal ihrer eigenen Tochter gegenüber Autorität. Der Kaiserliche Kommandeur würde das Kaiserliche Viertel verteidigen, doch ohne klare Befehlsgewalt von oben stellten seine Männer einen unbekannten Faktor dar. Sie würden kämpfen – doch würden sie es mit der gleichen Hingabe und Selbstlosigkeit tun wie ihre eigenen Krieger? Sie mußte damit rechnen, daß die Krieger schwankten, da der Lord, der den Angriff auf das Kaiserliche Viertel befahl, möglicherweise ihr nächster Kaiser sein konnte. Wieder einmal wurde sich Mara der Fehler des tsuranischen Herrschaftssystems bewußt.
»Bei den Göttern«, rief sie in einer Mischung aus Wut und Niedergeschlagenheit, »dieser Kampf wäre blutiger, aber auch direkter, wenn wir nicht die Einmischung der Versammlung fürchten müßten!«
Lujan betrachtete die Unruhe seiner Herrin mit Sorge; er kannte sich aus mit mürbe gewordenen Männern, die zu lange tatenlos auf einen bevorstehenden Kampf gewartet hatten. Seine Herrin stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Die wattierte Robe, die sie unter der Rüstung trug, war klatschnaß. Sie war dickköpfig gewesen und hatte das Geschehen von einer Stelle aus verfolgt, wo sie direkter Sonnenbestrahlung ausgesetzt gewesen war. »Ihr solltet jede Gelegenheit nutzen und Euch ausruhen, Mylady«, riet er mit sanfter Stimme. Er ging mit gutem Beispiel voran und nahm den Helm ab und ließ sich dann mit gekreuzten Beinen auf das nächste Kissen sinken. »Die Schlacht kann jederzeit beginnen, und Ihr tut Euren Leuten keinen Gefallen, wenn Ihr ausgemergelt oder von der Hitze beinahe bewußtlos seid.« Er kratzte sich am Kinn, unfähig, seine eigenen Sorgen vollständig zu unterdrücken. »Obwohl allen auffällt, daß die Magier ganz offensichtlich durch Abwesenheit glänzen.«
»Ein schlechtes Zeichen«, räumte Mara ein. »Hokanu schätzt, daß sie über einem gemeinsamen Ultimatum brüten. Wenn es zu einer direkten Handlung von mir oder Jiro kommt, werden sie eingreifen, da könnt Ihr sicher sein.« Sie ließ sich von ihrer Zofe das Unterkleid abnehmen und bat um ein neues, trockenes. »Ich werde später baden, wenn der Rauch sich etwas gelegt hat und man davon ausgehen kann, daß nicht alles sofort wieder schmutzig wird.«
Lujan rieb sich den angestoßenen Ellenbogen, doch er hielt in der Bewegung inne, als Kamlio
Weitere Kostenlose Bücher