Tag der Entscheidung
ihm Wasser reichte. Er nahm einen tiefen Schluck, die Augen auf die Karte gerichtet, die auf dem nackten Boden neben dem Tisch ausgerollt war. Die Ecken waren von Steinen beschwert, und in der Mitte lagen Kringel und Linien aus kleinen, bunten Ziegeln, die entsprechend dem neuesten Bericht die genaue Lage der einzelnen Streitkräfte anzeigten. Die zerstörerische Ungeduld, die an seiner Lady nagte, hatte auch die Männer befallen. Handeln war nötig, wußte Lujan, um ihren Mut aufrechtzuerhalten und sie vor übereifrigen, ihrer Ungeduld entspringenden Handlungen zu bewahren. Selbst ein kleines Gefecht würde reichen, um die Aufmerksamkeit und Disziplin der Truppen zu schärfen. Er betrachtete die Karte, dann zog er sein Schwert aus der Scheide, um es als Zeigestock zu benutzen. »Es ist offensichtlich, daß sich eine Gruppe von Neutralen entlang des östlichen Nebenflusses des Gagajin aufhält, zwischen der Gabelung nördlich des Großen Sumpfes und Jamar. Diese Gruppe könnte nach Westen marschieren und Jiros Flanke zusetzen, doch es ist wahrscheinlicher, daß sie abwarten und sich schließlich auf die Seite des Siegers schlagen.«
Mara antwortete, während ihre Zofe immer noch damit beschäftigt war, ihr Gesicht zu waschen und abzutrocknen, und ihr dann eine saubere Robe überstreifte. »Woran denkt Ihr? Eine Ablenkung? Wenn es uns gelänge, sie aufzuschrecken und dazu zu bringen, sich zu bewegen, könnten wir die Dinge dann genügend verwirren, um einige unserer Kompanien unbemerkt weiter nach vorn zu schieben?«
»Keyoke schlug vor, sie gefangenzunehmen, ihre Rüstungen und Banner zu stehlen und dann eine unserer Kompanien unter ihrer Flagge nach Norden zu schicken.« Lujan grinste amüsiert. »Nicht sehr ehrenhaft, Lady, doch es gibt Männer hier, die loyal genug sind, sich daran nicht zu stören.« In seinen Augen stand unverblümte Bewunderung für Maras schlanke Gestalt. »Doch es stellt sich die Frage, welche Streitkräfte wir heimlich abziehen und dazu benutzen könnten, die Gefechte anzuzetteln, ohne daß unsere Feinde es sofort bemerken würden.«
»Ich könnte das arrangieren, denke ich«, bot jemand mit samtweicher Stimme an. Ein Schatten trat aus dem Dunst an der Türschwelle. Wie immer war Arakasi lautlos eingetreten. Mara war an sein unerwartetes Erscheinen gewöhnt und fuhr nur leicht zusammen. Kamlio jedoch war völlig überrascht worden und verschüttete Wasser auf der Karte. Spielmarken wurden weggeschwemmt, und Wasser strömte bedrohlich in die Kuhle, die Kentosani darstellte. Im Zelt schien alles für einen Augenblick erstarrt zu sein, als Arakasi Kamlio zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus Thuril wiedersah; seine Augen weiteten sich einen Augenblick, offenbarten flehentliche Tiefe. Dann gewann er seine Beherrschung zurück, und sein Blick glitt über die Karte. Er fuhr fort, so schnell, als wäre es ein Reflex. »Das vergossene Wasser ist ein zutreffendes Bild für die inzwischen entstehende Situation. Lady, habt Ihr meine Berichte erhalten?«
»Einige davon.« Mara berührte Kamlios Hand und drängte sie, entweder zu gehen oder sich hinzusetzen. »Laß die Zofe das Wasser aufwischen«, murmelte sie weich. Kamlio hatte niemals so sehr einem verletzlichen Ganzen geähnelt wie jetzt; und doch hatte Thuril sie verändert. Sie wirkte nicht mehr so mürrisch und steif, sondern nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte sich.
Arakasi holte rasch Luft, und seine Augenbrauen wölbten sich fragend. Dann, ganz seinen Aufgaben hingegeben, kniete er sich an den Tisch; die Hände ruhten ineinander verschlungen auf der Platte, als wollte er sich offen dem Risiko stellen, daß andere ihr Zucken oder Beben bemerkten. Er sah nicht müde aus, dachte Mara, sondern einfach nur mitgenommen, und er trug keine Verkleidung außer einer einfachen schwarzen Robe mit weißen Rändern. Obwohl sie seit ihrer Rückkehr aus dem Süden Kontakt gehabt hatten, war dies die erste Gelegenheit seit der Ermordung des Kaisers, bei der sie sich persönlich treffen konnten. »Lady, es ist so, wie wir befürchteten. Die Inrodaka und ihre beiden Vasallen machen mit Jiro gemeinsame Sache; ihre Neutralitätserklärungen waren nur vorgetäuscht. Die Belagerungsmaschinen waren in den Wäldern versteckt und bewegen sich jetzt auf Kentosani zu.«
»Wo?« fragte Lujan knapp.
Arakasi spürte die Sorge des Kommandeurs. »Südwestlich der Heiligen Stadt.« Er faßte das Schlimmste zusammen: »Es sind Traditionalisten aus der Provinz
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