Tag der geschlossenen Tür
Schwachsinn. Seid ihr bereit für den totalen Schwachsinn? Achtzig Millionen: Jaaaa!!! Heil Mattock!
Ich komme zur Ost-West-Straße und stelle fest, dass der Mogo bereits in vollem Gange ist. Etwa zwanzigtausend Motorräder haben die komplette Straße zugestellt, man kann weder Anfang noch Ende der Veranstaltung erkennen, die meisten Fahrer gehen umher und schauen sich die Ausstellungsstücke der anderen an. Aus dem Hintergrund tönt blechern von einer beim Michel aufgebauten Anlage das protestantisch und gleichzeitig modern wirken wollende Geplapper des Pfarrers, der zu diesem Treffen das Thema »Sicherheit« gewählt hat.
…. und so stellt sich für uns die Frage: Freiheit oder Sicherheit?
Wir können diese Frage ziemlich klar beantworten: Freiheit UND Sicherheit! Wir möchten unsere Freiheit nicht durch den Begriff Sicherheit einengen lassen, aber es ist für uns trotzdem klar, dass wir uns im Auto anschnallen und auf dem Motorrad einen Helm aufsetzen. Und es ist uns auch klar, dass unsere Freiheit da aufhört, wo die Sicherheit der anderen anfängt. Denn da, wo wir uns frei fühlen, müssen sich die anderen trotzdem sicher fühlen können …
Der mikrofonierte Protestant salbadert monoton und blechern über die Szenerie, ich beobachte die Gesichter der belederten Zuhörer, die meisten wirken müde und gelangweilt, einige versuchen, den öden Ausführungen zu folgen und ihnen einen tieferen Sinn abzugewinnen, was ihnen aber nicht zu gelingen scheint. Was redet der Mann da eigentlich? Und warum bin ich hier? Warum sitze ich hier stundenlang in voller Montur auf meinem Motorrad in einer Art Gottesstau, höre mir sinnloses Gewäsch an und fahre dann wieder nach Hause? Ein Sprecher der Firma »Römer« betritt die Kanzel.
Liebe Christen, liebe Motorradfahrer. Mein Name ist Bernd Hanneweil, ich bin Produktionsleiter bei der Ihnen bestens bekannten Firma Römer. Ich finde es ganz klasse, dass das Thema Sicherheit auf diesem Gottesdienst auch mal eine Rolle spielen kann. Wir bei Römer als Helmhersteller machen uns zu dem Thema ja schon seit Jahren Gedanken und haben einige nützliche Inventionen vorzustellen …
Er beginnt über die Vorzüge der neuesten Generation seiner Römerhelme zu berichten. Einige der Anwesenden erwachen aus ihrer Agonie. Technik – endlich was Spannendes, dem es sich zu folgen lohnt. Einer zieht einen Notizblock und schreibt sich Begriffe auf. Für ihn hat sich der Mogo auf jeden Fall doch noch gelohnt. Ich überlege, ob ich mich einfach auf eines der freien Motorräder setzen soll, um auch dabei zu sein. Um zu fühlen, was jene fühlen. Um einen tieferen Sinn in ihrem Handeln zu entdecken. »Das kannst du nur verstehen, wenn du mal dabei gewesen bist!« Wenn mich Blicke treffen, nicke ich jovial zurück: Wir verstehen uns – wir sind aus demselben Holz geschnitzt, uns schweißt ein unsichtbares Jeansband zusammen – wir sind Biker, und wir glauben an Gott! Manchmal nickt man mir zu, einer wirft mir ein Victoryzeichen zu, ich erwidere es und fühle mich nach einer Weile ganz aufgehoben unter diesen urigen Individualisten. Unter diesen Spießern in Leder. Brüdern auf Böcken, Schwestern der Sonne und der Freiheit. Kutte und Jägerzaun. Energieanlagenelektroniker und Harley-Indianer. Ich bräuchte nur die Straße runterzugehen und den jeweils Äußersten von ihnen anzustoßen, dann würde der gesamte Motorradfahrergottesdienst, nach links umkippen. Ein Heidenspaß für alle. Und zum Abschluss dürften sie mich einfangen und vor dem Michel teeren und federn.
Nach etwa vier Stunden sind alle Redner mit ihren inspirierten Beiträgen durch. Wie auf ein Zeichen lassen die Christen ihre Maschinen an und rücken nach und nach ab. Gottes Legionäre auf ihren eisernen Pferden. Es dauert nicht lange, und der ganze Spuk ist vorbei, die Ost-West-Straße ist leer, nur ein Haufen Müll bleibt zurück. Das ist, was die Dörfer der Stadt zu schenken haben. Ein Haufen Müll und Exkremente. Als Beweis ihrer Gegenwart. Mit schönen Grüßen vom Land. Ihr glaubt, ihr seid wohl was Besseres. Hier habt ihr, damit ihr euch an uns erinnert. Einen Haufen Müll und Exkremente. Die Straße staunt einen Augenblick über das ihr Angetane und liegt im Schock leer und still da. Straßen glauben nicht an Gott, Straßen sind bescheidene Pragmatiker. Man hält sie für unterwürfige Diener, Sohlenlecker, man verachtet ungerechterweise ihr tiefes Wissen, ihren ungeheuren Erfahrungsschatz. Sie haben
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